Interview mit Juso-Vorsitzendem Kevin Kühnert spricht über seine Kandidatur als Parteivize

Berlin · Die beiden designierten SPD-Parteivorsitzenden Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans machten eine im besten Sinne ungeschliffene Politik, findet Kevin Kühnert. Mit dem Juso-Chef sprachen Jan Drebes und Kristina Dunz.

 Der Juso-Vorsitzende über seine Kandidatur als Parteivize.

Der Juso-Vorsitzende über seine Kandidatur als Parteivize.

Foto: dpa/Sven Braun

Herr Kühnert, wie schwer wird es nach der Entscheidung der Mitglieder für Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken als neue Parteivorsitzende, die SPD zu versöhnen?

Kühnert: Alle wollen einen gemeinsamen Weg. Wir haben zur Findung der Vorsitzenden ein neues Verfahren gewählt und daher gibt es nun eine neue Situation, die wir so noch nicht kannten. Es hat sich ein Duo durchgesetzt, das nicht die klassischen Strukturen im politischen Berlin repräsentiert. Das ist eine Herausforderung. Aber es kann zeitgleich ein ganz erfrischendes Aufbrechen von Strukturen bedeuten.

Klingt nach Spaltung.

Kühnert: Spaltung ist, wenn die Partei auseinander fällt. Das passiert nicht. Alle haben vor der Wahl beteuert, wir bleiben zusammen, gleich wie das Ergebnis ausfallen wird. Ich denke, dass das von allen ernst gemeint war. Ich habe nicht den Eindruck, dass das künftige Duo den Versuch unternimmt, die Partei zu unterjochen. Sie stehen für den genau gegenteiligen Stil.

Welche roten Linien wird die SPD in der Koalition mit der Union ziehen?

Kühnert: Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken sind für eine klare Themensetzung gewählt worden – für mehr soziale Gerechtigkeit in einem auseinanderdriftenden Land und für eine energischere Klimaschutzpolitik. Das sind zwei Komplexe, die in der Bevölkerung genauso gesehen werden und in möglichen Gesprächen eine Rolle spielen müssen. Wir wollen den Koalitionsvertrag nicht neu verhandeln, niemand hat das je gefordert. Aber in der Revisionsklausel steht, neue Vorhaben zu vereinbaren, wenn sich die Rahmenbedingungen geändert haben. Auf diese Klausel berufen wir uns.

Sie wollen die Koalition nicht platzen lassen?

Kühnert: In der Demokratie darf man Gespräche niemals taktisch führen, um am Ende zu einem Bruch zu kommen. Man darf sie aber auch nicht zum Selbstzweck führen, um auf Teufel komm raus in der Regierung zu bleiben. Wir sollten sie in der Wahrnehmung der politischen Stimmung innerhalb der SPD, aber auch in der Bevölkerung führen, dass es eine Unzufriedenheit mit dem Status Quo gibt, weil er vielen als zu träge und der Entwicklung der Zeit nicht angemessen erscheint.

Inwieweit ist die SPD daran schuld, dass die Koalition den Eindruck macht, träge und zu langsam zu sein?

Kühnert: Die Inkarnation dieses Gefühls ist die Große Koalition. Es ist ein Elefantenrennen, und das wirkt automatisch nicht dynamisch.

Die SPD kann nicht dynamisch sein? Elefanten sind ja eigentlich gewaltig.

Kühnert: Jeder Elefant für sich genommen kann dynamisch sein, ja. Man muss Revue passieren lassen, was alles in dieser Koalition passiert ist: Asylstreit zwischen CSU und CDU, Zerwürfnis der Unionsfraktion, Streit um den Verfassungsschutzpräsidenten. Auch Kritiker wie ich können nicht bestreiten, dass die inhaltliche Arbeit derweil klar von der SPD dominiert wurde...

...bis zum Zerwürfnis in der SPD...

Kühnert: …aber es liegt auch nicht nur daran, wer wie fleißig arbeitet. In der Politik geht es auch um Stimmungen, Emotionen und Hoffnungen. Und in diesem Feld ist die große Koalition ganz schlecht, weil sie verzagt wirkt. Sie teilt keine gemeinsame Idee von der Zukunft.

Und jetzt wird die Groko mit Herrn Walter-Borjans und Frau Esken zum Jungbrunnen?

Kühnert: Zwei neue Leute brechen nicht automatisch alles auf, aber es ist ein Bruch mit einer Spielregel der Berliner Politik. Wenn die erste Reihe abtritt, kommt normalerweise die zweite, ebenfalls sehr erfahrene und langjährig mit der Berliner Politik vertraute Reihe. Sie spricht und betreibt eine ähnliche Machtpolitik, wie die Reihe vor ihr. Jetzt kommen zwei, die einen anderen Werdegang haben - und eine große Legitimation der Basis. Sie funktionieren anders. Und das sollen sie auch. Das sind zwei, die nicht 30 Jahre lang durchs politische Stahlbad gegangen sind, auch wenn es solche Leute ebenfalls braucht. Sie machen im besten Sine ungeschliffener Politik.

Das ist interessant, dass Sie den Apparat so beschreiben. Sie gelten ja auch als Apparatschik. Als einer, der die Gremien liebt, der die Abläufe in den Institutionen der Partei zu nutzen weiß.

Kühnert: Natürlich sollte man den Apparat verstehen. Er ist Realität und Instrument, um politische Ziele durchzusetzen. Das wissen wir Jusos. Wir machen ja keine Wald- und-Wiesen-Politik und stimmen dann im Stuhlkreis ab. Natürlich wird auch machtpolitisch agiert. Sonst verändern Sie nichts. Man darf sich nicht damit zufrieden geben, der Partei als Folkloreabteilung zu dienen, sondern man muss Juso-Arbeit so machen, dass die Forderungen Realität werden. Deswegen habe ich Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken sehr transparent unterstützt. Im Schlafwagen kommt man nicht zu politischen Veränderungen.

Bereuen Sie es, dass Sie nicht selbst als Vorsitzender kandidiert haben? Dann hätten sie aus dem Elefanten ja den Jaguar machen können.

Kühnert: Um den Vorsitz im Anglerverein kann man sich vielleicht auch bewerben mit einer Grundunsicherheit. Aber wenn man beim Vorsitz der ältesten demokratischen Partei in Deutschland nicht absolut sicher ist, dass man das mit aller Konsequenz durchstehen und ausfüllen kann, dann sollte man es nicht machen. Deshalb habe ich auf eine Kandidatur verzichtet. Aber deshalb bin ich ja nicht aus der Welt. Die SPD findet auch hinter den beiden Parteivorsitzenden statt.

Also, um welches Amt werden Sie sich auf dem Parteitag am Freitag in Berlin bewerben?

Kühnert: Ich bin dafür, dass der Kurs der neuen Parteivorsitzenden vollen Rückhalt findet. Wer wie ich gewollt hat, dass mit Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans Erneuerung auch Gesichter bekommt, steht in der Verantwortung, sie jetzt zu stützen. Das möchte ich tun, indem ich dem Parteitag anbiete mich als stellvertretenden Parteivorsitzenden in eben diese Verantwortung zu nehmen. Ich traue mir zu, das Amt auszufüllen und dabei das linke Profil der Partei zu schärfen. Und ich möchte das in einem diversen Team tun.

Ist das vereinbar mit der Satzung der Jusos - es wäre doch das erste Mal, dass ein Juso-Chef Parteivize wird. Oder müssten sie dann zurücktreten?

Kühnert: Den Jusos habe ich frühzeitig signalisiert, dass ich mich möglicherweise für die Parteispitze bewerben werde. Und in diesem Bewusstsein haben sie mich mit einem Rekordergebnis wiedergewählt. Wenn diese Situation tatsächlich eintritt, sprechen wir noch einmal darüber, wie das auch umzusetzen ist. Es läge an den Jusos zu entscheiden, ob wir dieses Neuland betreten wollen. Aber erstmal müsste ich überhaupt gewählt werden.

Wie sehen andere Parteilinke Ihre Kandidatur?

Kühnert: Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans stehen für zahlreiche Positionen, die der Parteilinken seit jeher am Herzen liegen. Wir sehen uns in der Verantwortung, nun gemeinsam mit ihnen Erfolg zu organisieren. Profilierte Vertreter der Parteilinken wie Ralf Stegner und Johanna Uekermann sollten an führender Stelle als zusätzliche Präsidiumsmitglieder diesen Prozess begleiten. Dafür werben ich und in dieser Einschätzung sind wir untereinander auch einig.

Welchen inhaltlichen Aufschlag würden Sie in Ihren ersten 100 Tagen als Parteivize bringen?

Kühnert: Ein Beispiel wäre, den Personennahverkehr mit Bussen und Bahnen nicht mehr über Tickets sondern über Gebühren zu finanzieren. Bei Tickets zahlen die Oberärztin und der Krankenpfleger denselben Betrag, und wer aus reiner Bequemlichkeit selbst in der verstopften Innenstadt Auto fährt, trägt gar nichts zur überfälligen Mobilitätswende bei. Das ist ungerecht. Das Gebührenmodell ließe sich je nach Wohnort und nach Einkommen staffeln, sodass Menschen mit wenig Geld oder im ländlichen Raum weniger bezahlen müssten, aber ein besseres Angebot bekämen.

Werden Sie Ihre bisherigen Positionen künftig auch als Parteivize vertreten?

Kühnert: Es gibt mich nicht als schizophrene Person. Ich halte nichts davon, Politik als Rollenspiel zu begreifen und je nach Amt anders zu agieren. Wer mich wählt, bekommt den, der ich bin. Ich glaube, dass viele Positionen, die ich und die Jusos vertreten, auch in der gesamten SPD gut anschlussfähig sind.

Auch die Kollektivierung von BMW?

Kühnert: Diese Position vermutlich nicht und daran hängt auch nicht die Zukunft der SPD. Mein Antrieb ist die Frage, was Gemeinwohl künftig leisten muss. Mobilität, Wohnen, Umweltschutz und Bildung sowie die digitale Infrastruktur sind nur ein paar Punkte, die aus meiner Sicht so wichtig für das Zusammenleben dieser Gesellschaft sind, dass sie nicht dem freien Spiel der Märkte überlassen sein dürfen. Für dieses Prinzip sozialdemokratischer Politik will ich kämpfen, ohne dafür jedes Detail vorgeben zu wollen.

Was heißt das für die Koalition?

Kühnert: Ich verstehe das Votum unserer Mitglieder als Wunsch nach mehr Eigenständigkeit der SPD. Demokratie und Koalitionen gehen nicht ohne Kompromiss, keine Frage. Aber alle Parteien müssen daran interessiert sein, vor dem Kompromiss mit ihrer unverwechselbaren Position besser erkennbar zu sein.

Wie lautet Ihre Prognose: Hält die Regierung?

Kühnert: Das hängt davon ab, ob Union und SPD nach den Gesprächen diesen ewigen Verhandlungsmodus dann auch mal zufriedenstellend beenden können. Irgendwann werden sich die Koalitionäre in die Augen schauen und sagen müssen: hopp oder top. Es muss irgendwann eine finale Entscheidung fallen. Und die gilt dann - so oder so.

Wären Ihnen nach einem Koalitionsbruch Neuwahlen oder eine Minderheitsregierung der Union lieber?

Kühnert: Das ist mir zu spekulativ und zu taktisch.

Warum? Das müssen Sie doch in Ihren Strategien mitdenken.

Kühnert: Wer eine Koalition verlässt, gibt einen Teil der Kontrolle aus der Hand, das ist doch eine ganz nüchterne Feststellung. Auch das sollten die SPD-Delegierten bei ihrer Entscheidung berücksichtigen. Nicht weil sie Angst bekommen sollen, sondern weil Entscheidungen vom Ende her durchdacht werden müssen.

Es geht um eine Abwägung.

Kühnert: Genau. Nämlich um die Abwägung, ob die Delegierten lieber die Umsetzung politischer Inhalte aus dem Koalitionsvertrag und weiteren Vereinbarungen wollen. Oder ob sie den Vertrauensverlust insbesondere heute junger Menschen gegenüber der Politik schwerer gewichten. Die werden ihren Glauben an die SPD jedenfalls kaum zurückgewinnen, wenn sich der Eindruck verdichtet, die Union könne zukunftsgerichtete Politik ausbremsen.

Ihr Urteil steht fest?

Kühnert: Mein Votum zu dieser Koalition hat sich seit dem Eintritt vor eineinhalb Jahren nicht geändert, weil ich es immer prinzipiell begründet habe. Aber das Groko-Mitgliedervotum von damals gilt. Und daran ändert die Wahl von Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken per se erstmal nichts.

Wer ist im Moment kampagnenfähiger für eine Bundestagswahl? Die SPD oder die Union?

Kühnert: Wir haben zumindest unsere Führungsfrage schon geklärt. Und den deutlich stärkeren Generalsekretär als Kampagnenmanager.

Und die Spitzenkandidatur ist auch schon klar?

Kühnert: Das Vorschlagsrecht dafür liegt in jeder Partei bei den Parteivorsitzenden. Der personelle Aderlass in der SPD ist jedenfalls nicht so groß, als dass wir nicht jederzeit eine starke Spitzenkandidatur festlegen könnten.

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