GA-Serie zur Sterbehilfe Lukas Radbruch: "Eine ganz andere Tiefe"

Bonn · Professor Lukas Radbruch leitet die Palliativmedizin an der Uniklinik und dem Malteser-Krankenhaus. Er plädiert dafür, dass sich an der rechtlichen Lage zur Sterbehilfe nichts ändert. Allerdings gibt es große Unsicherheit bei den Ärzten, weil ihr Standesrecht einen wichtigen Paragrafen unterschiedlich umsetzt.

 Der Palliativmediziner Lukas Radbruch wollte zu Beginn seiner Karriere möglichst viel Abstand zu seinen Patienten halten. Die Begegnung mit Schwerkranken hat dann etwas ausgelöst in ihm.

Der Palliativmediziner Lukas Radbruch wollte zu Beginn seiner Karriere möglichst viel Abstand zu seinen Patienten halten. Die Begegnung mit Schwerkranken hat dann etwas ausgelöst in ihm.

Foto: Volker Lannert

Rund einmal in der Woche kommt er mit dem Fahrrad zur Arbeit. Von Rheinbach bis auf den Venusberg und zurück. "Das ist eine schöne Strecke. Zumindest wenn es nicht regnet." Lukas Radbruch braucht das. Die Zeit auf dem Fahrrad ist sein ganz persönlicher Rückzugsraum, sein Ritual, um das zu verarbeiten, womit er täglich konfrontiert ist.

Radbruch ist Professor an der Bonner Uniklinik und leitet die im vergangenen Oktober gegründete Palliativstation. Zudem hat er noch eine halbe Stelle am Malteser-Krankenhaus in gleicher Funktion. Seine Aufgabe: Die Versorgung Schwerstkranker und Sterbender. Seine Grundidee: "Lebensqualität erhalten, nicht das Leben künstlich verlängern."

Radbruch, das merkt man schnell, ist ein zurückhaltender, fast leiser Mann von 56 Jahren, der aber klare Positionen vertritt und über den Tellerrand schaut. Schon seit Anfang der 90er Jahre ist er im Bereich der Schmerztherapie unterwegs. Ursprünglich kommt er aus der Anästhesie. "Ich bin es gewohnt, irgendwo Nadeln reinzustechen", sagt er mit einem leichten Anflug von Humor, bevor er ernst wird: "Ich habe das früher gemacht, weil ich nicht so viel mit Patienten reden wollte. Mir war das zu nervig, zu eng." Eine Phase sei das gewesen.

Die Begegnung mit Sterbenden hat dann aber etwas in ihm ausgelöst. Heute könnte der Kontakt zu Patienten nicht enger sein. "Der Umgang mit Schwerkranken hat eine ganz andere Tiefe. Da habe ich gemerkt, dass Kommunikation ganz wichtig ist und wie viel man mit ihr erreichen kann", sagt er.

Betroffenheit bei Pflegern, Schwestern und Therapeuten

Das gilt für die Patienten, das gilt aber vor allem auch für sein Team, das in der Regel näher an den Menschen ist. "Die Schwestern, Pfleger und Physiotherapeuten sind oft besonders betroffen, wenn einer stirbt", sagt Radbruch. "Die ständige Konfrontation mit dem Tod ist auf Dauer eine Belastung, bei der man gut überlegen muss, wie man damit umgeht." Auch ein gutes Team gerate schnell in eine Krise, wenn mehr als vier Menschen in einer Woche sterben würden. "Das führt ganz schnell zum Burn-out bei Einzelnen."

Vor kurzem sind in einer Woche zehn Menschen gestorben auf seiner Station. "Das war wirklich hart. Ich frage dann immer aktiv nach. Derzeit überlegen wir, wie wir Gespräche darüber in die Arbeitsroutine einbauen können." Zudem seien Rituale wichtig - kleine Fotoalben mit Patientenbildern, die hin und wieder geblättert werden könnten, würden gut funktionieren. Auch eine Trauerkerze, die man bei jedem Todesfall anzündet, sei eine gute Möglichkeit. "Zudem muss jeder selbst sehen, dass er sich Rückzugsräume schafft." So wie Fahrrad fahren.

Radbruch braucht feine Antennen für seine Patienten und sein Team. Kommunikationsfähigkeit und zusätzlich Moderations-Kompetenz, gerade in ethischen Fragen, zählen in seinem Job zur Kernkompetenz. Immer wieder bringt er Beispiele, stellt Fragen in den Raum, die verdeutlichen, wie schwerwiegend und vielschichtig die Praxis auf einer Palliativstation ist.

"Wie verhalte ich mich, wenn die Frau sagt, ihr Mann solle nicht wissen, dass er Krebs hat?" Radbruch will zeigen, wie individuell und damit komplex das Thema ist. Er berichtet von einem Mann, dessen ganze Familie zu einer Art Feier ins Krankenzimmer gekommen war, während er starb. "Sie haben uns Bilder gezeigt, wie er früher war. Immer im Mittelpunkt und in Feierlaune."

Andere wollen lieber für sich sterben, haben teilweise gar kein Interesse daran, noch Konflikte mit Angehörigen zu beseitigen, bevor sie gehen. "Wir haben immer eine Idee von heiler Welt. Für viele Menschen ist das aber gar nicht wichtig", sagt Radbruch. Daher ist es vielmehr von Bedeutung, dass sich die Mediziner und Pfleger zurücknehmen und offen sind für die Wünsche der Patienten, auch wenn deren Perspektive nicht den eigenen Vorstellungen entspricht. "Wir müssen immer fragen: Wer hat hier eigentlich das Problem, wir oder der Patient?"

[Podiumsdiskussion]Das Thema der Sterbehilfe wird Radbruch meist zu einseitig an der Selbstbestimmung des Patienten aufgehangen. Er macht eine schleichende Werteverschiebung in der Gesellschaft aus. Gerade Menschen, die noch einigermaßen gesund sind und Angst vor einem späteren Kontrollverlust durch einen negativen Krankheitsverlauf oder ähnliches haben, äußern immer häufiger einen Sterbewunsch. "Antizipiertes Leid", nennt Radbruch das.

Frei übersetzt: Bevor jemand nicht mehr "funktioniert" und der Medizin völlig ausgeliefert ist, möchte er lieber gleich sterben. Eine häufig vertretene Meinung. Radbruch bezieht klar Stellung: "Es wird ein Maß an Selbstbestimmung gefordert, das es zu Lebzeiten nicht gibt. Es ist normal, am Lebensende die Kontrolle zumindest teilweise abgeben zu müssen, und Schmerz oder Leid kann nicht ganz aus dem Leben und seinem Ende verbannt werden. Vieles bekommen wir mit Medikamenten in den Griff. Aber es gibt Situationen, die wir aushalten müssen, sonst sind wir irgendwann keine Menschen mehr."

Sorge wegen Entwicklung in der Schweiz

Eine Entwicklung wie in der liberalen Schweiz, wo der "Suizid-Tourismus" rasant wächst, sieht Radbruch mit Sorge. Er leitet daraus für sich aber eine konkrete Aufgabe ab: "Wie geben wir den Patienten die Kontrolle zurück, um ihnen ein auch aus ihrer Perspektive würdevolles Sterben zu ermöglichen? Da gibt es schon gute Ansätze." Was für Radbruch nicht in Frage kommt: "Ich werde keine Menschen aktiv zu Tode bringen. Das passt nicht zu meiner Rolle als Arzt."

Man könne begleiten, dabeistehen oder einen Therapieverzicht durchführen. "Für Töten auf Verlangen oder assistierten Suizid stehe ich nicht zur Verfügung." Mit tödlichen Medikamenten kenne er sich ohnehin nicht aus. "Warum sollte ich als Arzt so etwas durchführen? Und wo ziehen wir überhaupt die Grenze? Was ist, wenn ein Teenager vor Liebeskummer sterben möchte? Unser Ziel muss es sein, an der Suizid-Prophylaxe zu arbeiten."

Sterben kann nicht schwarz-weiß betrachtet werden. Es gibt unendlich viele Zwischentöne. Fakt ist allerdings: Nur rund ein Mensch pro Monat kommt mit einem Sterbewunsch zu Radbruch oder seinen Kollegen. "Einige sind da sehr rational. Sie wollen Angehörigen nicht zur Last fallen. Viele haben ihr Leben lang geholfen, lassen sich aber selbst nicht gern helfen.

Bei manchen ist es aber auch zunächst nur ein Kommunikationswunsch", sagt Radbruch. Um so wichtiger sei es zu fragen, was die Menschen wirklich wollen. "Meist ist es gar nicht die Aufforderung an den Arzt, den Tod herbeizuführen."

Radbruch vertritt in der aktuellen Diskussion einen klaren Standpunkt. Die Gesetzeslage solle so bleiben, wie sie ist, weil sie viel Spielraum lässt. "Das Strafrecht wie auch die ärztliche Berufsordnung erlauben viele Möglichkeiten, Leiden am Lebensende effektiv zu lindern, und potenziell lebensverlängernde Behandlungsmaßnahmen, die der Patient nicht mehr wünscht, zu beenden oder gar nicht erst anzufangen."

Zudem: "Es bleiben nur ganz wenige Einzelfälle, in denen die Optionen der Palliativversorgung nicht ausreichen, und auch andere Optionen der Leidminderung nicht genügen. Ein Gesetz sollte nicht für Einzel- und Ausnahmefälle gemacht werden."

Umstrittene Definition

Viele Ärzte sind in punkto Sterbehilfe verunsichert. Der Grund: Paragraf Nummer 16 der Musterberufsordnung (MBO). Dort geht es um "Beistand für Sterbende". Der Paragraf wurde 2011 auf dem Bundesärztetag kontrovers diskutiert und neu gefasst. Darin kommt der für Ärzte entscheidende neue Satz vor: "Sie dürfen keine Hilfe zur Selbsttötung leisten." So weit, so klar. Nur zeigen sich die Tücken des föderalen Systems.

Es gibt 17 Landeskammern, denen freigestellt ist, inwieweit sie den Paragrafen in ihre eigene MBO einpassen. Gut die Hälfte hat den zitierten Satz wortwörtlich übernommen. Bayern und Baden-Württemberg etwa haben gänzlich auf ihn verzichtet. Andere Landesärztekammern haben ihn umformuliert. Der klassische föderale Flickenteppich.

Da hilft es wenig, wenn der Präsident der Bundesärztekammer, Frank Ulrich Montgomery, Einigkeit beschwört: "Wir haben keinen Flickenteppich, wir haben föderal unterschiedliche Formulierungen, aber dieselbe Haltung", sagt er im Namen der 17 Kammerpräsidenten. Dabei hatten die teilweise dafür geworben, Ärzten mehr Freiheiten zu gewähren.

Für die Ärzte bedeutet die aktuelle Lage, dass sie in der Praxis im Unklaren gelassen werden, ob und welche berufsrechtlichen Konsequenzen ihnen drohen könnten. Denn einige Formulierungen bieten großen Interpretationsspielraum und ihre Berufsordnung ist schärfer als das Strafrecht.

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