Attentäter Anis Amri Macht und Ohnmacht des Rechtsstaates

Düsseldorf · Sozialbetrug, Alias-Namen, Anschlagspläne – die NRW-Behörden wussten über den Berliner Attentäter Anis Amri fast alles, sahen aber keine Möglichkeit, ihn zu stoppen. Landesinnenminister Jäger gibt Auskunft im Innenausschuss.

Was die Stunde geschlagen hat, lässt sich an Ralf Jägers Geleitschutz ablesen. Der NRW-Innenminister erscheint am Donnerstagmorgen im Landtag mit seinem Staatssekretär, seinem Polizei-Abteilungsleiter, dem Landeskriminaldirektor, dem Verfassungsschutz-Chef, dem Chef der Ausländerabteilung, seiner persönlichen Referentin und drei Pressesprechern. Der Innenausschuss verlangt in einer Sondersitzung Aufklärung darüber, warum die Behörden nichts gegen den in NRW gemeldeten und als gefährlich bekannten Berliner Attentäter Anis Amri unternommen haben.

Was der skandalerprobte Jäger vortragen lässt, sorgt immer wieder für Raunen im Saal. Bevor Amri am 19. Dezember einen Lastwagen in einen Berliner Weihnachtsmarkt steuern und zwölf Menschen töten konnte, hat er vor allem in NRW immer wieder Sicherheitsbehörden, Ausländerämter und Justiz beschäftigt. Man wusste über den 24-jährigen Tunesier und seine Radikalisierung fast alles, glaubte jedoch, ihn weder mit dem Strafrecht noch dem Aufenthaltsrecht stoppen zu können.

„Trotz einer engmaschigen Beobachtung lagen keiner Behörde Hinweise auf eine konkrete Anschlagsgefahr vor“, sagt Jäger. Die Sicherheitsinstitutionen von Bund und Ländern seien bei Amri „bis an die Grenzen des Rechtsstaats“ gegangen, hätten seine Gefährlichkeit jedoch nicht gerichtsverwertbar nachweisen können. Es gebe in Deutschland eben keine „Gesinnungshaft“ für Gefährder.

Amris Asylverfahren

Amri reist im Juli 2015 nach Deutschland ein, sein Asylantrag wird erst im Juli 2016 abschlägig beschieden. In der Zwischenzeit beschäftigt er mit 14 verschiedenen Identitäten unter anderem die Ausländerbehörden in Oberhausen, Dinslaken, Dortmund und Kleve. Offiziell bleibt die städtische Asylunterkunft Emmerich bis September 2016 seine letzte Meldeadresse. Da die volle erkennungsdienstliche Erfassung von Asylbewerbern mit Fingerabdruck erst Anfang 2016 eingeführt wird, fällt lange nicht auf, dass Amri mit falschen Namen mehrfach Sozialleistungen kassiert. Was die Behörden auch nicht wissen: Amris Asylantrag ist bereits in Italien abgelehnt worden. Dort saß der Tunesier vier Jahre in Haft.

Amri als behördenbekannter Gefährder

Die NRW-Behörden stufen Amri am 17. Feburar 2016 erstmals als islamistischen Gefährder ein. Obwohl er anschließend vorwiegend in Berlin lebt, wird er durchgehend von allen deutschen Behörden als „Gefährder“ geführt. Im Laufe der Monate gibt es viele Hinweise, dass er sich als Selbstmordattentäter anbiete, Waffen besorgen wolle, Kontakte zur Terrororganisation Islamischer Staat (IS) unterhalte und Bombenanleitungen im Internet recherchiere. Ein V-Mann des Landeskriminalamtes habe im Juli 2016 berichtet, Amri habe damit geprahlt, ein Blutbad anrichten zu wollen, heißt es in einem Bericht des Kölner Stadt-Anzeigers.

Ende September 2016 wird das Landeskriminalamt NRW von tunesischen und marokkanischen Sicherheitsbehörden informiert, dass Amri IS-Anhänger sei, Kontakt zu mutmaßlichen tunesischen Terroristen in Libyen habe, in Deutschland ein „Projekt ausführen wolle“ und sich in Berlin aufhalte. Weitere ähnliche Informationen gibt es am 14.10. und 26.10.

Die Überwachung sei intensiv gewesen, das Verhalten Amris im Vergleich zu den 548 weiteren in Deutschland registrierten islamistischen Gefährdern jedoch nicht außergewöhnlich, erklärt NRW-Verfassungsschutz-Chef Burkhard Freier.

Amris fehlgeschlagene Abschiebehaft

Nach dem abgeschlossenen Asylverfahren im Sommer 2016 ist der intensiv überwachte Gefährder Amri ausreisepflichtig. Die Abschiebung scheitert jedoch daran, dass die von NRW beantragten Passersatzpapiere (PEP) noch nicht vorliegen und Tunesien zunächst bezweifelt, dass es sich bei Amri um einen Staatsbürger handelt. Das Gemeinsame Terrorabwehrzentrum (GTAZ), in dem 40 Vertreter aller Kriminalämter und Verfassungsschutzbehörden von Bund und Ländern sitzen, berät sieben Mal über den Fall Amri. Die Idee einer Abschiebeanordnung nach Paragraf 58a des Aufenthaltsgesetzes, die eine monatelange Abschiebehaft hätte nach sich ziehen können, wird verworfen. Die rechtlichen Hürden für die seit 2005 verfügbare schärfste Waffe des Ausländerrechts sind extrem hoch. Mit Tatsachen hätte bewiesen werden müssen, dass Amri eine Gefahr für die Bundesrepublik darstellt. Gewöhnliche Abschiebehaft erscheint unmöglich, da die Aussicht auf baldige Rückführung nach Tunesien Voraussetzung wäre.

Amris Strafverfahren

Die Staatsanwaltschaft Duisburg setzt schon im Frühjahr 2016 ein Verfahren gegen Amri wegen Sozialleistungsbetrug in Gang. Da der Streitwert nur auf 163 Euro taxiert wird und Amri zu diesem Zeitpunkt nicht auffindbar ist, wird das Verfahren eingestellt. Für eine Inhaftierung hätten die Vorwürfe ohnehin nicht ausgereicht. Auf NRW-Initiative setzt der Generalbundesanwalt im März in Berlin parallel Terrorermittlungen gegen Amri in Gang. Der Verdacht: Er soll sich Geld beschaffen, um Waffen für einen Anschlag zu besorgen. Amri wird sechs Monate lang abgehört und beobachtet, doch der Verdacht lässt sich nicht gerichtsfest erhärten. Im September wird das Verfahren eingestellt. „Was wir bei Amri wussten, ist im Wesentlichen über Hörensagen zustande gekommen“, sagt Jäger.

Amris versäumte Meldeauflagen

Nachdem Amri im August 2016 vollziehbar ausreisepflichtig ist und von der Ausländerbehörde Kleve geführt wird, darf er NRW nicht mehr verlassen. Trotzdem ist er vorwiegend in Berlin. Die Behörden verzichten auf Sanktionen, da Gerichte erfahrungsgemäß allenfalls geringe Geldbußen verhängen. Außerdem will NRW nicht die Terrorermittlungen gegen Amri in Berlin stören: „Es hätte dazu geführt, dass wir ihn mit der Nase darauf gestoßen hätten, dass er beobachtet wird“, sagt Jäger. „Ziel musste es sein, Amri durch den Nachweis einer gewichtigen Straftat in U-Haft zu bringen“, erklärt Burkhard Schnieder, Abteilungschef für Ausländerangelegenheiten im Innenministerium.

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