Sexueller Missbrauch im Erzbistum München und Freising Missbrauchsgutachten belastet ehemaligen Papst Benedikt XVI.

München · Das Missbrauchsgutachten für das Erzbistum München-Freising hat besonders scharfe Kritik am emeritierten Papst hervorgerufen. Die Gutachter stützen die Forderung nach einer unabhängigen Aufarbeitung.

 Die Plastik „Der Hängemattenbischof“ eines Protestbündnisses von verschiedenen Organisationen steht vor dem Haus der bayerischen Wirtschaft, in dem das Gutachten zu Fällen von sexuellem Missbrauch im katholischen Erzbistum München und Freising vorgestellt wurde.

Die Plastik „Der Hängemattenbischof“ eines Protestbündnisses von verschiedenen Organisationen steht vor dem Haus der bayerischen Wirtschaft, in dem das Gutachten zu Fällen von sexuellem Missbrauch im katholischen Erzbistum München und Freising vorgestellt wurde.

Foto: dpa/Sven Hoppe

Der ehemalige Papst Benedikt XVI. hat sich in seiner Zeit als Erzbischof von München und Freising in mehreren Fällen Pflichtverletzungen im Umgang mit sexuellem Missbrauch schuldig gemacht. So war er selbst „überwiegend wahrscheinlich“ an der Entscheidung beteiligt, den wegen sexuellen Missbrauchs rechtskräftig verurteilten Priester Peter H. in das bayerische Erzbistum zu übernehmen und wieder in der Seelsorge einzusetzen. Das ist der spektakulärste Inhalt eines Gutachtens zum sexuellen Missbrauch in der Erzdiözese München und Freising, das die Münchner Anwaltskanzlei Westpfahl Spilker  Wastl am Donnerstag der Öffentlichkeit vorstellte.

In einer 82-seitigen Stellungnahme hatte sich Benedikt im Dezember zu den gegen ihn erhobenen Vorwürfen eingelassen. Dabei behauptete er, an einer Sitzung, in der es um die Übernahme von Peter H. ging, nicht teilgenommen zu haben. Im Protokoll der Sitzung wird die Teilnahme des Kardinals indes erwähnt, so habe er aus einem Gespräch des damaligen Papstes mit deutschen Bischöfen berichtet. „Ich formuliere zurückhaltend: Wir halten die Aussage Benedikts, er sei in dieser Sitzung nicht anwesend gewesen, für wenig glaubwürdig“, sagte der zu den Autoren des Gutachtens zählende Rechtsanwalt Ulrich Wastl.

In der Amtszeit Ratzingers durften außerdem zwei Priester, die strafrechtlich sanktioniert worden waren, weiter als Seelsorger arbeiten. Später sei der Münchner Generalvikar Gerhard Gruber Wastl zufolge gedrängt worden, alle Schuld auf sich zu nehmen, um Benedikt XVI. zu schützen. Die Reformgruppe „Wir sind Kirche“ forderte Benedikt am Donnerstag auf, sich zu seiner Schuld zu bekennen. Die Präsidentin des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, Irme Stetter-Karp, nannte es „erschreckend“, dass Benedikt in seiner Stellungnahme offenbar noch immer kein Fehlverhalten einräume.

Juristen untersuchen 363 Tatvorwürfe aus den Jahren 1945 bis 2019

In ihrem Gutachten haben die Münchener Juristen im Zeitraum von 1945 bis 2019 363 Tatvorwürfe untersucht. „Bei 211 Sachverhalten sehen wir den Tatvorwurf als erwiesen oder zumindest plausibel an“, sagte Gutachter Martin Pusch. Mindestens 492 Betroffene wurden in diesem Zeitraum ermittelt. In 47 Fällen, darunter auch dem Fall von Peter H., wurden die Untersuchungsergebnisse an die Staatsanwaltschaft weitergegeben, denn die Gutachter vermuten, dass hier noch lebende Verantwortungsträger wegen Straftatbestände wie etwa Beihilfe zum Missbrauch oder Strafvereitelung zur Verantwortung gezogen werden könnten. Neben Joseph Ratzinger, dem späteren Benedikt XVI., haben sich aus Sicht der Gutachter auch sämtliche anderen Erzbischöfe von München und Freising schuldig gemacht: „Bis zum Inkrafttreten der überarbeiteten Fassung der Leitlinien der Deutschen Bischofskonferenz wurden die der Erzdiözese bekannt gewordenen Fälle allenfalls in gravierenden Einzelfällen bei der Staatsanwaltschaft angezeigt“, heißt es in dem Gutachten. „Oftmals waren die Taten dann dort bereits bekannt.“

Während der allerdings über 25 Jahre im Amt befindliche Erzbischof Friedrich Kardinal Wetter sich in 21 Fällen nicht korrekt verhalten haben soll, werfen die Gutachter dem heutigen Amtsinhaber Reinhard Kardinal Marx vor, zwei Missbrauchsfälle nicht an die römische Glaubenskongregation weitergemeldet zu haben: Marx hatte bereits im Mai 2021 dem Papst seinen Rücktritt angeboten, um für Fehler der Vergangenheit Verantwortung zu übernehmen. Papst Franziskus hatte das aber abgelehnt.

Gutachter schließen sich Forderung von Betroffenenvertretern nach Aufarbeitung an

Am Donnerstag bat Marx die Betroffenen um Entschuldigung für das Leid, dass Menschen in der Kirche zugefügt wurde. „Dass Missbrauch nicht ernst genommen wurde, dass die Täter nicht in rechter Weise zur Rechenschaft gezogen wurden.“ Auf seine eigene Rolle ging Marx indes nicht ein. Stattdessen betonte er, dass für ihn persönlich die Begegnungen mit Betroffenen „eine Wende bewirkt“ hätten. „Sie haben meine Wahrnehmung von Kirche verändert und verändern diese auch weiterhin.“

ZdK-Präsidentin Irme Stetter-Karp zeigte sich skeptischer. Aus ihrer Sicht habe die Kirche ein „systemisches Problem“. Sie glaube nicht mehr daran, dass die Kirche die Aufarbeitung alleine schaffe, sagte die oberste Vertreterin der katholischen Laien. In eine ähnliche Richtung gehen auch die Forderungen der Münchner Gutachter: Sie sprachen sich für die Einrichtung einer Ombudsstelle und die stärkere Einbeziehung der betroffenen Pfarreien in die Aufarbeitung aus. „Es ist dringend nötig, für Opfer einen geschützten Raum zu schaffen, in dem sie sich äußern können“, sagte der Rechtsanwalt Ulrich Wastl. „Und geschützt heißt, dass ihnen niemand gegenübersitzt, der einen weißen Kragen zum schwarzen Hemd trägt.“ Womit sich der Gutachter im Grunde der Forderung von Betroffenenvertretern nach einer staatlichen Aufarbeitung anschloss.

Denn es liegen nun unzählige Studien vor, und die Befunde seien eindeutig: „Bis 2010 wurde auf die Opfer keine Rücksicht genommen“, sagte Wastl. „Wieviele Gutachten und Studien braucht das Land eigentlich noch, um sich dieser Erkenntnis zu stellen?“ Wobei sich am Ende wohl auch der Staat die Frage stellen lassen muss, wie er bislang mit Missbrauchsfällen in der katholischen Kirche umgegangen ist: In wenigstens einem Fall nämlich ist in den Münchner Akten eine Bemerkung überliefert, nach der sich Verantwortliche freuen, „einen guten katholischen Richter“ erwischt zu haben, ohne den der Fall wohl anders ausgegangen wäre.