Artikel vom 18.08.1988 Mit dem ersten Toten begann das nächtliche Drama im Bus
Bremen · Gegen Mitternacht spitzte sich die Geiselnahme an der Autobahn zwischen Bremen und Hamburg dramatisch zu. In dem gekaperten Bus, mit dem die Gangster Bremen verlassen hatten, schossen sie wahllos eine der mehr als 20 Geiseln an, um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen.
Die angeschossene Geisel wurde aus dem Bus zu einem Notarztwagen gebracht. Alle Hilfe war vergebens. Wenig später starb das Opfer.
Bereits am Nachmittag in Bremen, wo die Gangster einen gut besetzten Linienbus gekapert hatten, zeigten sie Brutalität: Mehrfach stießen sie ein Kind aus dem Bus und hielten ihm die Waffe an die Schläfe. Das alles vor den Augen der Polizei, der Journalisten, der Anwohner und Schaulustigen. Auch gegen Mitternacht mußte wieder ein Kind herhalten, um die vorher von der Polizei festgenommene Komplizin freizulassen.
Am Nachmittag sah alles vorläufig noch relativ harmlos aus. Der Geiselnehmer Hans-Jürgen Rösner hielt Hof: Kühl sprach er in Mikrophone, gab Privatradios Interviews, ließ sogar Fotografen in den von ihm gekaperten Bus steigen und Bilder von den Geiseln machen. 'Die wollten doch fotografieren', sagte er mit zynischem Unterton gestern abend in Bremen am Telefon zu AP.
Rösner hatte sich in den Wagen eines Fotografen bemüht, wo ein Autotelefon zur Verfügung stand. Zu einem Interview sei er schon bereit - doch dann überschlugen sich die Ereignisse.
Plötzlich pfiffen Kugeln durch die Luft, die Geiselnehmer gaben Warnschüsse ab, pferchten die vor drei Stunden von ihnen genommenen Geiseln im hinteren Teil des Linienbusses der Bremer Straßenbahn AG zusammen und fuhren los - Richtung Autobahn. Quer durch eine Menschenmenge, die angesichts der Geiselnahme und des drohenden Todes vor ihrer Haustür angelockt wurde. Nur 20 Meter entfernt von 30 Geiseln, die um ihr Leben zitterten.
Wenn Schüsse fallen, weicht die Menschenmenge erschreckt zurück. Doch kaum sind die Schüsse verhallt, pirschen sich die Menschen wieder an den Geiselbus heran.
Darin hält der wegen Körperverletzung und Diebstahls zu elf Jahren Haft verurteilte 31jährige Hans-Jürgen Rösner die Geiseln in Schach. Er ist es, der zwischendurch aus dem Bus aussteigt und droht: 'Wir haben auch schwere Knaller dabei.' Er deutet an, seine Komplizen und er seien im Besitz von Handgranaten.
Blankes Entsetzen
Rösner hatte in Bremen seine Freundin getroffen, die jetzt mit ihm und seinem Komplizen Dieter Degowski schwer bewaffnet im Bus sitzt.
Während drinnen die Geiseln um ihr Leben zitteren, schenkt Rösner draußen einem Obdachlosen medienwirksam eine Zigarette. Drinnen im Bus wechselt die Stimmung zwischen blankem Entsetzen und gespannter Ruhe. Die Geiselnehmer gehen im Gang auf und ab.
Ihre bereits in Gladbeck genommenen Geiseln, eine junge Frau und ein Bankkassierer, müssen auf ihr Geheiß das Gladbecker Lösegeld zählen. Im Viertel-Stunden-Takt lassen sie fünf Geiseln frei - alte
Menschen, ein Mann am Stock, ein Kind.
Die Geiselnehmer fühlen sich durch die verdeckte Fahndung der Polizei 'total verarscht'. Denn die Polizei hatte den ganzen Nachmittag vorgegeben, sie habe die Spur der Verbrecher verloren.
Als die Polizei den Austausch der Geiseln im Bus gegen einen Fotografen und ein schnelles Auto verweigert, zerren die Geiselnehmer ein Kind aus dem Bus, halten ihm eine Waffe an die Schläfe, schreien: 'Scheiß Bullen'.
Dann fahren sie los - hinter ihnen her eine Karawane von Journalisten. An der nächsten Tankstelle
tanken sie den Bus auf - stoßen ein hübsches, junges Mädchen auf die Straße, halten ihr wieder die Waffe an die Schläfe. Endlich gelangen sie auf die Autobahn Richtung Hamburg.
Ein Polizeisprecher in Gladbeck bezeichnete Rösner als einen 'ganz skrupellosen Mann'. Er war vor zwei Jahren von einem Hafturlaub nicht in die Strafanstalt Werl zurückgekommen.
Sein Komplize ist nach Angaben des Essener Staatsanwalts Hans Christian Gutjahr der 32 Jahre alte Dieter Degowski aus Gladbeck. Auch er ist nach Angaben von Staatsanwalt Gutjahr 'offenbar justizerfahren'.
Beide seien wohl auf die Geiselnahme vorbereitet gewesen. Der erste Akt des Dramas hatte sich in Gladbeck abgespielt: Dort hatten die beiden Verbrecher am Dienstag um 8.00 Uhr vor einer Bankfiliale den 34 Jahre alten Bankkassierer Reinhold Alles und die 23jährige Kundenberaterin Andrea Blecker überfallen und sich mit ihnen in der Bank im Stadtteil Rentfort verschanzt. Mit der Drohung, ihre Geiseln und sich selbst zu töten, erzwangen sie das Geld und ein Fluchtauto, das sie mehrmals wechselten.