Digitaler Parteitag der Grünen Nah an 100 Prozent: Baerbock offiziell zur Kanzlerkandidatin gekürt

Berlin · Nach einer Woche im Sturm holt sich Annalena Baerbock beim digitalen Parteitag Rückendeckung von der Basis und startet mit 98,5 Prozent jetzt auch offiziell als Kanzlerkandidatin der Grünen.

Digitaler Parteitag der Grünen: Nah an 100 Prozent: Baerbock offiziell zur Kanzlerkandidatin gekürt
Foto: dpa/Kay Nietfeld

Anstoß ist dann doch schon um 15.20 Uhr. Fast wie in der Fußball-Bundesliga. 15.30 Uhr war geplant. Aber die Wahl ist früher durch. Annalena Baerbock hat da bereits 98,5 Prozent Zustimmung im Rücken. Ein Ergebnis gefährlich nahe an den 100 Prozent. Sie könnte den ehemaligen SPD-Chef und Kanzlerkandidaten Martin Schulz über die Folgen eines solchen Ergebnisses fragen, aber der ist nicht im Saal. Baerbock ist sichtlich erleichtert über dieses Votum der Delegierten. „Vielen Dank für diesen Rückenwind nach Tagen im Gegenwind“, ruft Baerbock, die jetzt auch offiziell grüne Kanzlerkandidatin ist, in den Saal. Sie dankt explizit ihrem Co-Vorsitzenden Robert Habeck für dessen „Solidarität“. Sie habe selbst Fehler gemacht und sich „tierisch darüber geärgert“. Aber nun: Auf in den Wahlkampf!

Habeck hatte am Vortag eigens für Solidarität mit Baerbock geworben, ja diese regelrecht eingefordert, wo der Kanzlerkandidatin seit Tagen der Wind wegen auch selbstgemachter Fehler gehörig ins Gesicht bläst und die Partei schon deutlich Zustimmung in Umfragen gekostet hat. Und Baerbock gibt das jetzt zurück. Die Botschaft: Leute, das Teamspiel funktioniert! Habeck ist da schon seit 09.54 Uhr in der Halle. Baerbock kommt um 14.12 Uhr durch einen Seiteneingang, begleitet von Personenschützern des Bundeskriminalamtes. Noch so eine Bürde dieser Kandidatur. Sie jetzt eine sehr öffentliche, auch eine potenziell gefährdete Person.

Habeck hat als früher Vogel morgens schon die Stimmung eingefangen. Er steht längere Zeit mit Bettina Jarasch zusammen, die für die Grünen das Rote Rathaus, Dienstsitz des Regierenden Bürgermeisters, erobern will. Das nächste Abgeordnetenhaus von Berlin wird wie der nächste Bundestag am 26. September gewählt. Jarasch hat am Morgen passenderweise grünes Licht für diesen zweiten Tag des Wahlprogramm-Parteitages gegeben. Schnell sammeln sich um Habeck und Jarasch Fotografen, die da noch an einem nicht ausgeleuchteten Ort der Halle stehen. Als Medienprofis erkennen Habeck und Jarasch die Lage und setzen ihre Unterhaltung fünf Meter weiter fort, wo sie von einem Scheinwerfer in besseres Licht gerückt werden.

Ricarda Lang, stellvertretende Parteichefin, leitet derweil in Kapitel drei der Programmdebatte ein. Auch hier geht es um „Solidarität sichern“. Lang sagt: „Zukunft ist nichts, was einfach passiert.“ Armut sei „kein Naturgesetz“. Es gehe darum Hartz IV, zu „überwinden“, mit einem Mindestlohn von zwölf Euro, einer Garantiesicherung und Kindersicherung. Und dann natürlich wieder Klimaschutz. Dieser sei „ein gigantischer Jobmotor für zukunftsfähige Arbeitsplätze“, so Lang im Solidaritäts-Kapitel. Zwischendrin begrüßt der Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes, Reiner Hoffmann, die „liebe Annalena“, den „lieben Robert“ und die „lieben Freundinnen und Freunde“. Die Grünen und der DGB seien sich bei manchen Unterschieden einig, dass auch Umbau der Wirtschaft eine zutiefst soziale Frage sei.

„Den Menschen das Leben leichter zu machen“, zitiert Baerbock in ihrer Rede Willy Brandt. „Und genau darum geht es jetzt, liebe Freundinnen und Freunde.“ Applaus. Bundesgeschäftsführer Michael Kellner stimmt ein: „Wir haben eine echte Chance, die Sensation im September zu schaffen, die Union vom Thron zu stoßen.“ Baerbock erzählt von Klimaschutz, vom Umbau der Wirtschaft, von der Stärkung des öffentlichen Nahverkehrs. Ja, sie wisse, wie das ist. „Ich komme ja vom Land.“ Das ist dieser Satz wieder, den sie gerne einbringt, weil er suggeriert, sie wisse, wo die Menschen der Schuh drücke. In der Schulzeit habe sie beim Bäcker gejobbt. Morgens um fünf mag die Welt noch in Ordnung sein. Wenn die Bahn fährt oder der Bus. Aber so war das nicht bei Baerbock. Sie musste das Auto nehmen. „Das Auto war damals mit 18 für mich die große Freiheit.“

Dieser Konvent ist wieder ein größtenteils digitaler Parteitag. Im vergangenen November hatten die Grünen noch total digital über ihr neues Grundsatzprogramm beraten. Dieses Mal immerhin hat die Parteitagsregie 100 Neumitglieder am Freitag zum Auftakt in den Saal gelassen. Sonst schalten sich die meisten der 700 Delegierten aus ihren Wohn- und Arbeitszimmern zu. Doch pünktlich zur Krönungsmesse für Baerbock sind die 100 Neumitglieder am Samstag wieder im Saal. Echter Applaus ist gefragt, nicht nur Klicken auf Applaus-Buttons. Und natürlich will die Parteitagsregie auch Bilder, die die Kanzlerkandidatin vor Publikum zeigen, am besten klatschend. Die Bilder kommen.

Dann ist Baerbock gewählt – und natürlich auch Habeck. Beide zusammen als Grünen-Spitzenduo, Baerbock auch noch als Kanzlerkandidatin. Alles erledigt in nur einer Wahl. Bei ihrer Wiederwahl zur Parteichefin im November 2019 kam Baerbock auf 97,1 Prozent – dem besten Ergebnis einer Vorsitzenden in der Parteigeschichte. Jetzt, in dieser Ausnahmesituation einer ersten grünen Kanzlerkandidatur, schafft es Baerbock auf 98,5 Prozent. Und Habeck gleich mit. Warum Baerbock sich zunächst wählen lässt und erst danach ihre Rede an den Parteitag hält, können die Grünen nicht schlüssig erklären. Normalerweise bewerben sich Kandidatin oder Kandidat erst mit einer Rede und dann wird gewählt. Aber auch hier und in dieser besonderen Zeit ist bei den Grünen manches anders.

Baerbock spannt dann einen großen Bogen: von den Sorgen auf dem Land bis hin zum Umgang mit Russland und China. „Wir Europäer müssen unsere Naivität ablegen und in unsere Sicherheit investieren“, sagt die Grünen-Vorsitzende etwa über chinesische Cyberattacken. Sie ist jetzt draußen in der großen weiten Welt. Dort, wo eine Bundeskanzlerin Zuhause sein muss. Und fünf Minuten später wieder zurück in Deutschland, bei der Bundestagswahl. „Erstmals seit Jahrzehnten liegt echter Wechsel in der Luft“, ruft Baerbock noch in den Saal. Eine kurze Pause. Dann der finale Satz. „Jetzt ist der Moment, unser Land zu erneuern, und alles ist drin.“ In 106 Tagen weiß Baerbock mehr.

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