Interview mit Buchautor Robin Alexander „Niemand wollte die Verantwortung in der Flüchtlingskrise übernehmen“

In seinem Buch „Die Getriebenen“ seziert der „Welt“-Journalist Robin Alexander die entscheidenden Tage der Flüchtlingskrise im September 2015, als eine Grenzschließung unmittelbar bevorstand. Mancher sieht in den Enthüllungen Stoff für einen Untersuchungsausschuss.

Buchautor und Journalist Robin Alexander.

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Kaum ein Ereignis hat die öffentliche Meinung in Deutschland zuletzt derart gespalten wie die Grenzöffnung für Flüchtlinge im Spätsommer 2015. Der Journalist Robin Alexander schildert in einem vielbeachteten Buch, dass damals eigentlich alles ganz anders geplant war. Mit ihm sprach Rüdiger Franz.

Herr Alexander, bereiten Sie sich schon auf eine Zeugenaussage in einem Untersuchungsausschuss des Bundestages zur Aufarbeitung der Flüchtlingskrise vor?

Robin Alexander: Selbstverständlich würde ich den Abgeordneten Rede und Antwort stehen. Allerdings würde auch in einem Untersuchungsausschuss der journalistische Quellenschutz gelten: Ich werde meine Informanten unter keinen Umständen preisgeben.

Anlass zur Frage bietet FDP-Chef Christian Lindner. Wie zuvor schon die AfD hat er auf dem Bundesparteitag der Liberalen angekündigt, bei einem Wiedereinzug in den Bundestag den Untersuchungsausschuss zu beantragen – und zwar auf Grundlage Ihres Buches. Waren Sie überrascht?

Alexander: Nein, denn Christian Lindner legt den Finger in eine Wunde. Die Bundesregierung hat in der Flüchtlingskrise Fehler gemacht. Aber wirklich versagt hat die Opposition: Grüne und Linke haben sich im Plenum vor Begeisterung über die Grenzöffnung überschlagen, anstatt zu fragen, auf welcher Rechtsgrundlage die Entscheidungen gefallen sind und wie lange die als Ausnahme angekündigten Regelverletzungen dauern sollen. Die Aufgabe der Opposition ist die Kontrolle der Regierung. Weil diese Kontrolle damals nicht wahrgenommen wurde, will Lindner die Flüchtlingskrise mit einem Untersuchungsausschuss aufarbeiten.

Sie beschreiben detailliert, wie 2015 eine kurzzeitige Ausnahme zum sechsmonatigen Ausnahmezustand wurde. Dabei habe die Regierung im September 2015 ursprünglich nur eine Woche nach der Grenzöffnung die Grenzen wieder schließen wollen, alles war vorbereitet. Warum tat sie es am Ende dann doch nicht?

Alexander: Die Bundespolizei hatte an der Grenze bereits Position bezogen, auch alles Material war für eine Grenzschließung für Flüchtlinge bereits vor Ort. Sogar der entsprechende Befehl lag schon vor – er wurde nur nicht unterschrieben! Denn in der entscheidenden vorbereitenden Sitzung im Innenministerium verließ den Minister der Mut. Thomas de Maizière wurde mit rechtlichen Bedenken einiger Ministerialbeamter konfrontiert und der Frage, ob man die Bilder aushalten wolle, dass Flüchtlinge von deutschen Polizisten abgedrängt würden. Daraufhin hat de Maizière die Sitzung verlassen und die Kanzlerin angerufen. Er wollte nicht entscheiden, aber sie auch nicht! Die Grenze wurde nicht geschlossen, nicht weil jemand bewusst dagegen entschieden hätte – in der entscheidenden Stunde wollte nur niemand die Verantwortung dafür übernehmen.

War die Sorge vor jenen „schlimmen Bildern“ und Nutzen für den parteipolitischen Gegner womöglich größer als der Aspekt der humanitären Hilfe?

Alexander: Ich kann den Akteuren nicht hinter die Stirn schauen und ihre Gedanken lesen. Aber sicher ist: Die Bilder, die vielleicht entstanden wären, waren ein Thema in den entscheidenden Besprechungen.

Warum hat es eineinhalb Jahre gedauert, bis die Öffentlichkeit durch Ihr Buch von der für den 12. September vorbereiteten Grenzschließung erfuhr? Hätte die Regierung diese Zusammenhänge nicht publik machen müssen?

Alexander: Die Regierung ist nicht verpflichtet, proaktiv über ihre eigenen Entscheidungsprozesse zu berichten. Ob wir Journalisten früher hätten nachfragen und tiefer graben müssen? Vielleicht, aber ich habe diese Fakten auch noch nicht im Herbst 2015 gekannt.

Auch angesichts dieser Informationspolitik wird die Grenzöffnung oftmals mit einem politischen Alleingang Angela Merkels assoziiert. Trägt diese Darstellung?

Alexander: Nein, deshalb heißt mein Buch auch „Die Getriebenen“ und nicht „Die Getriebene“. Merkel ist die entscheidende Politikerin in dieser Zeit, aber nicht die allein entscheidende Politikerin. Auch ihre Minister und Koalitionsparteien üben Druck aus und sind ihrerseits Zwängen unterworfen.

Sie beobachten die Kanzlerin schon länger. Handelte Sie in der Flüchtlingskrise untypisch für ihren Politikstil oder in gewohnter Art?

Alexander: Untypisch war die Tragweite der Entscheidungen: Weil die deutsche Grenze nicht für Flüchtlinge geschlossen wurde, kamen innerhalb eines halben Jahres eine Million Menschen nach Deutschland – was nie geplant war. Aber man kann auch in der Flüchtlingskrise Muster beobachten, die typisch für Merkels Politik sind. Zuerst zögert sie sehr lange, um dann Entscheidungen in sehr kurzer Zeit zu treffen. Typisch ist vielleicht ebenfalls, dass Entscheidungen in sehr kleinem Kreis fallen und nicht klassisch demokratisch legitimiert sind: Weder das Kabinett noch das Parlament haben je über die Grenzöffnung oder den Türkei-Deal abgestimmt.

Nicht nur der Bundestag und das Kabinett blieben außen vor, auch Horst Seehofers angekündigte Klage vor dem Bundesverfassungsgericht blieb eine leere Drohung. Hat das Institutionengefüge der Gewaltenteilung in der Flüchtlingskrise versagt?

Alexander: Ich bin tatsächlich der Meinung, dass es besser gewesen wäre, wenn das Parlament frühzeitig über die Flüchtlingspolitik abgestimmt hätte. Dies hätte die Regierung gezwungen, ihre Position zu erläutern und den offenen Grenzen eine Legitimität gegeben, die sie in den Augen großer Teile der Bevölkerung nicht hatten.

Stichwort Institutionen. Sie selbst sind Journalist. Wie sehen Sie die Rolle der deutschen Medien für den Zeitraum, den Ihr Buch betrachten?

Alexander: Am Anfang waren wir nicht skeptisch genug. Unsere Aufgabe besteht nicht darin, Begeisterung für die Willkommenskultur zu wecken – aber auch nicht im Gegenteil. Wir Berichterstatter hätten uns darauf beschränken sollen, skeptisch zu fragen, was die Regierung da eigentlich gerade tut – und auf welcher rechtlichen Grundlage.

Anhänger randständiger Theorien wittern hinter der Asylkrise eine geplante Agenda zur Destabilisierung Europas. Verstehe ich Sie richtig, dass das Gegenteil der Fall ist und die Politik in Wirklichkeit überhaupt keinen Plan hat, sondern – um bei Ihren Worten zu bleiben – „getrieben“ wird?

Alexander: Es gab keinen großen Plan – weder einen guten Plan, zur Rettung der Welt, noch einen bösen Plan, das Volk auszuwechseln. Das sind alles Legenden. Die Regierung hat vielmehr in einer entscheidenden Situation die Kontrolle verloren.

Regierungssprecher Steffen Seibert hat Ihrer Darstellung widersprochen, Kanzlerin Merkel und der niederländische Premierminister Rutte hätten der Türkei in einer Geheimabsprache bereits im März 2016, also weit vor dem Flüchtlingsabkommen, die Aufnahme von 150 000 bis 250 000 Migranten pro Jahr zugesagt – notfalls in einem deutsch-niederländischen Alleingang. Sie aber halten an Ihrer These fest…

Alexander: Das ist keine These, sondern eine Recherche. Es gab diese Absprache, sie ist sogar in der offiziellen Erklärung der Staats- und Regierungschefs angedeutet. Dort ist von der „freiwilligen Aufnahme aus humanitären Gründen“ die Rede. Lediglich auf die Veröffentlichung der Zahl ist verzichtet worden, weil man die europäischen Bevölkerungen vorsichtig darauf vorbereiten wollte.

Zurück zum Untersuchungsausschuss: Die Opposition hat schon aus weitaus weniger bedeutenden Gründen danach gerufen. Warum ließen sich Grüne und Linke diese Gelegenheit entgehen?

Alexander: Grüne und Linke haben sich ideologisch der Politik der offenen Grenzen verschrieben. Sie glauben, ihre Anhänger zu verwirren, wenn sie die Regierungspolitik der Jahre 2015 und 2016 hinterfragen. Ich kenne aber persönlich mehrere führende Abgeordnete der Opposition, die dies für einen großen Fehler halten.