Die zwei Seiten der Omikron-Welle Explodierende Fallzahlen, mildere Verläufe – was tun?
Analyse | Berlin/Düsseldorf · Die Zahl der Infektionen wird auch in Deutschland noch heftiger nach oben schießen. Zugleich besteht Hoffnung, dass die Auswirkungen sich in Grenzen halten. Was uns das aktuelle Infektionsgeschehen im Ausland lehrt.
Deutschland hat wieder einmal Glück im Unglück. Die Omikron-Welle wird wohl mit gleicher Heftigkeit über die Bundesrepublik rasen wie über die Nachbarländer. Aber wie vor einem Jahr bei der Delta-Variante erfolgen hierzulande die Ansteckungen wegen der geografischen Mittellage später. Und so bleibt den Verantwortlichen Zeit für Anpassungen. Zugleich zeigen die Verläufe im Ausland, dass auch hohe Fallzahlen beherrschbar bleiben können.
Gerade in den Ländern West- und Nordeuropas zeichnet sich ein klarer Trend ab. Ob in Irland, Frankreich, Island oder Dänemark – fast überall erreicht die Zahl der wöchentlichen Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner mit mehr als 2000 neue bislang unbekannte Rekordhöhen. Doch trotz der explodierenden Werte sind die Klinikeinweisungen deutlich niedriger als bei der Delta-Variante. In der südafrikanischen Region Gauteng, wo die Zahlen der Omikron-Variante besonders schnell zulegten, mussten nur halb so viele Menschen ins Krankenhaus wie auf dem Höhepunkt der Delta-Welle. Die Todeszahl betrug sogar nur ein Achtel verglichen mit dem Maximum einige Monate früher.
Auch die Hochrisiko-Länder Frankreich, Großbritannien, Dänemark, Niederlande oder Schweiz schneiden bei der aktuellen Corona-Todesrate besser ab als Deutschland. Das deutet nach Ansicht von Experten darauf hin, dass Omikron weniger starke Verläufe der Atemwegskrankheit Covid verursacht als die bis vor Kurzem in Deutschland noch vorherrschende Delta-Variante. Besonders deutlich wird das in einem Land wie Portugal. Dort liegt die Inzidenz mit 745 doppelt so hoch wie in Deutschland. Doch weder die Kliniken sind überlastet, noch erreicht die Zahl der Toten auch nur annähernd das deutsche Niveau. Noch bei der dritten Welle mussten Sanitätseinheiten der Bundeswehr in diesem südeuropäischen Land aushelfen, weil Patientinnen und Patienten mit Corona-Infektionen nicht ausreichend behandelt werden konnten. Jetzt erlaubt das Land Menschen mit dreifacher Impfung, ihre Isolation zu verlassen, wenn sie Kontaktpersonen von Infizierten waren. Das betrifft immerhin 270.000 Personen.
Corona-Vorreiter Israel ist in dieser Hinsicht noch krasser. Die Inzidenz liegt im jüdischen Staat bei 1247. Trotzdem hält das Land Gaststätten und Restaurants weiter offen, erlaubt Konzerte und andere Veranstaltungen. Sogar die Grenzen für Touristen und Geschäftsreisende hat Israel wieder geöffnet. Der oberste Corona-Bekämpfer, der frühere Brigade-General Salman Zarka, ist davon überzeugt, dass Abschottung nichts gegen ein hochansteckendes Virus bringt. Stattdessen setzt er auf den Schutz der verletzlichen Gruppen in Alters- und Pflegeheimen, die bereits ihre vierte Impfung erhalten, auf die strikte Beachtung der vorhandenen Klinikkapazitäten und den energischen Ausbau von Stationen, wenn viele Menschen gleichzeitig krank werden.
In Deutschland ist die Lage nicht so klar. Nach einer Simulation mit dem Covid-19-Modell der Universität des Saarlandes, die der Pharmazie-Professor Thorsten Lehr und sein Team erstellt haben, ist bei den gegenwärtigen geplanten Restriktionen wie der 2G-Plus-Regel bei Restaurants schon ab dem 20. Januar mit einer Inzidenz von über 1000 und rund 155.000 täglichen Fällen zu rechnen. Das ist allerdings nur eine Simulation und keine Prognose, aber sie zeigt die Dimension der deutschen Infektionslage. Danach könnte die Zahl der Intensivpatienten bis Ende Januar auf über 9000 steigen. Das würde das Gesundheitssystem nicht verkraften, es müsste zu weiteren Einschränkungen kommen.
Auch der Mathematiker Jan Fuhrmann, der für die Universität Heidelberg das Infektionsgeschehen beobachtet und Modellrechnungen anstellt, erwartet den Höhepunkt der Verbreitung der neuen Variante spätestens im Februar. „Zum weiteren Verlauf der Omikron-Welle in Deutschland lassen sich nur schwer Vorhersagen treffen, zumal nicht klar ist, ob und wie Kontaktbeschränkungsmaßnahmen nochmals verschärft werden“, gibt der Wissenschaftler zu bedenken. Er fügt aber hinzu: „Insgesamt sieht es aktuell so aus, als würde diese Welle breiter und flacher als in vielen anderen Ländern verlaufen.
“Trotzdem wirkt sich für Deutschland negativ aus, dass die Bevölkerung nicht ausreichend immunisiert ist. Nach Schätzungen des britischen Statistikamts besitzen dort etwa 95 Prozent der Menschen ab 16 Jahren Antikörper gegen das Coronavirus. Vergleichbare Zahlen hierzulande gibt es nicht. Aber die meisten Virologen und Epidemiologen gehen davon aus, dass dieser Grad der Immunität in Deutschland nicht erreicht ist. Das macht das Land grundsätzlich anfälliger für eine hochansteckende Variante. Denn in den Staaten, die trotz hoher Inzidenzen nicht zu scharfen Restriktionen greifen, ist die Impfquote deutlich höher als in Deutschland. In Portugal sind knapp 90 Prozent der Bevölkerung mit den in der EU zugelassenen hochwirksamen Impfstoffen geimpft, in Spanien sind es 81 Prozent, in Dänemark 80 und in Italien immerhin 74 gegenüber knapp 72 in Deutschland. In all diesen Ländern beträgt die aktuelle Inzidenz ein Mehrfaches des deutschen Werts. Trotzdem verzichten deren Regierungen auf einen allgemeinen Lockdown.
Das Nachbarland Niederlande hingegen verzeichnet trotz der Schließungen von Geschäften, Restaurants oder Veranstaltungen eine Inzidenz von 1119 am Montag. Offenbar ist die Strategie des Lockdowns angesichts der Omikron-Variante überprüfungsbedürftig. Sie funktioniert nicht mehr so klar wie bei den früheren Mutationen oder beim Urtyp.
Inzwischen kennt fast jeder Menschen, die trotz doppeltem und dreifachem Schutz angesteckt wurden. Aber in den meisten Fällen geht es glimpflich aus. Impfen, impfen, impfen, fordert unisono die überwiegende Mehrzahl der Mediziner und anderer Biowissenschaftler. Corona-Experte Fuhrmann stößt ins gleiche Horn: „Die gute Nachricht ist, dass die Impfstoffe offenbar immer noch das liefern, was man sich von ihnen erhofft hat: Sie verringern deutlich das Risiko, schwer zu erkranken.“ Im Klartext: Impfung schützt nicht vor Ansteckung, aber vor Intensivstation. Und das ist sehr viel. Und überlastet das Gesundheitssystem nicht. Im Grunde macht sie aus der gefährlichen Covid-Erkrankung eine normale Grippe.
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