Sinkende Wahlbeteiligung in NRW Phönix in der Asche

Bonn · Bei den jüngsten Bürgermeisterwahlen im Land wurden Negativ-Rekorde gebrochen: So niedrig war die Beteiligung noch nie zuvor. Aber auch auf Bundes- und Landesebene schwindet die Mobilisierungskraft der Politik. Dabei liegen die Gelegenheiten zur Überwindung der Sprachlosigkeit zwischen Staat und Bürgern gerade auf kommunaler Ebene auf der Straße

 Bundestagswahlkampf vor zehn Jahren: Flotte Sprüche, sympathische Fotos, drei Buchstaben für eine Partei. An dieser Strategie hat sich bis heute nichts geändert

Bundestagswahlkampf vor zehn Jahren: Flotte Sprüche, sympathische Fotos, drei Buchstaben für eine Partei. An dieser Strategie hat sich bis heute nichts geändert

Foto: Ulrich Baumgarten

Von Plakaten gesäumte Alleen, Omnipräsenz beim Straßenwahlkampf, zahllose Hausbesuche - und dann dies: 45,1 Prozent Wahlbeteiligung. Nur fünfundvierzig Prozent der Bonner wollten am 13. September mitentscheiden, wer neuer Oberbürgermeister ihrer Stadt wird. Anders gesagt: Mehr als die Hälfte verspürte dazu keinen Antrieb. Wer das für einen Extremwert hält, sollte sich in der Nachbarschaft umschauen. In Köln zog es (trotz des dramatischen Ereignisses am Vortag) nur 40 Prozent der Wähler an die Urnen, in Wuppertal 37 Prozent - und in Essen, der neuntgrößten Stadt Deutschlands, konnten die Kandidaten mit 28 Prozent der Wahlberechtigten nicht einmal mehr ein Drittel der Menschen mobilisieren. Was ist da los? Haben die Deutschen das Interesse daran verloren, Souverän in einer demokratischen Gesellschaft zu sein?

Gewiss, eine Bürgermeisterwahl erfährt seit jeher weniger Aufmerksamkeit als die Entscheidung über den deutschen Bundestag. Doch selbst dort schleppte sich die Wahlbeteiligung zuletzt nur mühsam über die 70-Prozent-Marke, nachdem sie Anfang der Achtziger Jahre noch um die 90 Prozent lag. Lediglich 60 Prozent beteiligten sich an den jüngsten Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen, und nur 56 Prozent der wahlberechtigten Bonner wollten 2014 Einfluss auf die Zusammensetzung des Stadtrats nehmen.

Eines haben Bonns neuer OB Ashok Sridharan, Henriette Reker in Köln, Ministerpräsidentin Hannelore Kraft und Bundeskanzlerin Angela Merkel insofern gemeinsam: So berechtigt sie sich über ihre Wahlsiege freuen durften, so übertrieben wäre es doch, ihnen auf Grundlage des Ergebnisses einen "breiten" Rückhalt in der Bevölkerung zuzuschreiben.

"Ausgehöhlte Demokratie" lautet ein plakatives Schlagwort in Wissenschaft und Medien. Auch in Buchhandlungen ist die - je nach Ansicht heraufziehende oder bereits weit fortgeschrittene - Systemkrise seit Jahren mit Händen zu greifen. Dass auch die Politiker selbst um Lösungsvorschläge nicht verlegen sind, zeigt eine kleine Auswahl allein aus diesem Jahr: Von der Ausdehnung der Wahl auf mehrere Tage und dem Aufstellen von Wahlurnen auch in Supermärkten und Bahnhöfen (aus den Reihen der SPD) über eine längere Öffnung der Wahllokale bis 20 Uhr (CDU und CSU) bis hin zur Möglichkeit der elektronischen Stimmabgabe (FDP) reicht das Spektrum.

Öffentliches Schweigen

Eines haben all die Reparaturversuche an der Ressource des mündigen Bürgers gemeinsam: Sie alle sind technischer Natur und verzichten konsequent auf Ursachenforschung. Über die Möglichkeit, dass sich das Volk von der Politik entfernt, weil sich die Politik vom Volk entfernt, wird seitens der etablierten Parteien öffentlich nur ungern gesprochen. Solche Töne hört man allenfalls intern, zuweilen auch in einer Wutrede an der Basis.

Wie sehr Politiker mitunter in sich ruhen können, bewies erst vor wenigen Wochen der Präsident des hessischen Regierungsbezirks Kassel, als er bei einer Bürgerversammlung zur Flüchtlingsunterbringung auf kritische Bemerkungen Einheimischer entgegnete, es stehe diesen frei, Deutschland jederzeit zu verlassen. Von dieser Aussage ist es nicht mehr weit zu Bertolt Brecht, der einst schrieb: "Wäre es da nicht doch einfacher, die Regierung löste das Volk auf und wählte ein anderes?"

Professor Peter M. Huber, Richter am Bundesverfassungsgericht, umschrieb die aktuelle "Sinnkrise" der deutschen Demokratie kürzlich in einem Zeitungsbeitrag mit den Worten: "Das Verständnis für Sinn und Zweck des im Dienste seiner Bürger stehenden Nationalstaats ist geschwunden. Auf Dauer wird das zum Problem, weil Akzeptanz und Legitimität des Staates davon abhängen, dass er seine Zwecke auch zur Zufriedenheit seiner Bürger erfüllt."

Zufriedenheit lässt sich nicht messen

Was aber, wenn die "Zufriedenheit" sich in Wahlergebnissen kaum messen lässt, weil bestimmte - oft die wichtigen - Sachverhalte der demokratischen Legitimation gänzlich entzogen werden, etwa indem sie längst mit den Entscheidungszuständigkeiten der Europäischen Union verflochten sind? In welchem Wahlkampf wurde ergebnisoffen darüber debattiert, ob die D-Mark durch den Euro ersetzt werden soll? Wann fand die Willensbildung über das Umkrempeln des deutschen Hochschulwesens im Zuge der "Bologna-Reform" statt? Und wo ist aktuell die demokratische Legitimation für die exekutiv verordnete Asylpolitik oder die für die meisten Bürger völlig undurchsichtigen Verhandlungen über das Freihandelsabkommen TTIP?

Hinzu kommen unberechenbare Paradigmenwechsel, wenn etwa die Regierung - zugespitzt: eine Person, nämlich die Kanzlerin - vermeintliche Eckpfeiler der eigenen Politik wie Wehrpflicht oder Kernenergie buchstäblich über Nacht vom Tisch fegt. Auch die inhaltliche Annäherung der großen Parteien nehme dem Wähler die Möglichkeit zur Einflussnahme, schreibt Verfassungsrichter Huber und ergänzt: "Wo es keine Alternativen gibt, gibt es auch keine Wahl." Dies verstärke die "Sprachlosigkeit zwischen Bürgern und Politikern".

Auch auf lokaler Ebene lässt sich diese Sprachlosigkeit erzeugen, dafür braucht es nicht einmal kapitale WCCB-Desaster, die mit dem Geld der Bürger ausgebügelt werden müssen. Oft sind es gerade die kleinen Dinge, die den Graben vertiefen. Das kann der Umbau einer Straßenbahnhaltestelle sein, wenn er - wie am Bonner Stadthaus - eineinhalb Jahre Bauzeit und sechs Millionen Euro beansprucht. Das kann die Ankündigung einer Stadtverwaltung sein, mit dem neuen "Dienstleistungszentrum" im Stadthaus werde der Behördengang "für die Bürger planbarer und die Wartezeit deutlich kürzer" - wenn dann mit dem "verbesserten Service" in Wirklichkeit ein heilloses und monatelanges Chaos produziert wird. Viel wirksamer lässt sich Entfremdung kaum herstellen.

In jeder Krise liegt bekanntlich auch eine Chance. Denn so ausbaufähig wie heute war das Verhältnis zwischen den verkappten Minderheitenregierungen und ihren Bürgern selten. Gelegenheit zum Ausbau gibt es reichlich: Einerseits zeigt das hohe private Engagement in einer Stadt wie Bonn, wie groß das bürgerliche Potenzial (noch) ist, obwohl der Staat dem Bürger kontinuierlich mehr nimmt und weniger gibt. Und zum anderen kommen die nächsten Wahlen bestimmt. Immerhin darauf ist Verlass.

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