Norbert Blüm zu 25 Jahre Hauptstadtbeschluss „Regionale Identität wird immer wichtiger“

BONN · Norbert Blüm spricht über Bonn und Berlin und die rheinische Philosophie des Kompromisses. Er sagt: "In Bonn steckt die Weisheit von 2000 Jahren Überlebensübung."

Sie haben damals sehr politisch argumentiert.

Norbert Blüm: Meine damaligen Argumente gelten für mich auch noch heute: Ich habe kein Bedürfnis nach einer Metropole, die ein Land dominiert. Im Zeitalter der Globalisierung ist die Zeit dieser nationalen Zentren vorbei.

Sie hatten gewarnt, dass mit der Entscheidung pro Berlin die föderale Struktur der Bundesrepublik Schaden nehmen könne, weil sich das Gespenst des Zentralismus schleichend ausbreiten könnte. Fühlen Sie sich rückblickend bestätigt oder widerlegt?

Blüm: Das Wort Bestätigung will ich nicht nutzen. Aber niemand wird bestreiten können, dass von Berlin eine gewaltige Sogwirkung ausgeht. Jeder, der mitspielen will, glaubt, er müsse in Berlin sein. Aus meiner Sicht bedeutet das einen Verlust an Vielfalt, Buntheit und föderaler Kraft. Ich glaube, dass der Nationalstaat seine beste Zeit hinter sich hat. Die nationalen europäischen Parlamente müssen nach zwei Richtungen abgeben: nach oben und nach unten, nach Europa und in Richtung Kommunen. Mittelfristig wird der Bürgermeister wichtiger als der Bundestagsabgeordnete. Einerseits wird die Musik in großen Ballungsregionen spielen. Andererseits wird im Zeitalter globalisierter Nivellierung regionale Identität immer wichtiger.

Können Sie dafür Beispiele nennen?

Blüm: Zwei Megatrends sind sehr schwer miteinander zu vereinbaren: die Weltverantwortung – das schafft der Nationalstaat nicht mehr. Da braucht er mindestens Europa. Der Klimawandel oder die Bändigung des internationalen Finanzkapitalismus sind gute Beispiele. Und andererseits entsteht eine große neue Sehnsucht nach Geborgenheit und regionaler, heimatlicher Überschaubarkeit. In ein solches Konzept der Zukunft passt eine Metropole mit dominierendem Anspruch nicht.

Sähe die Republik denn heute anders aus, wenn der Beschluss vor 25 Jahren anders ausgefallen wäre?

Blüm: Die Bedingungen, unter denen Politik gemacht wird, haben sich ja grundlegend verändert. Angesichts des heutigen Klimas weltweiter Konkurrenz darf man nicht glauben, dass das Bonner Idyll zu konservieren gewesen wäre. Aber das menschliche Maß, der unideologische Ansatz – das wäre heute noch eine sehr gute Richtschnur. Der rheinische Kapitalismus hat Deutschland gut getan. Der rheinische Ansatz – „Mir kenne uns, mir helfe uns“ – ist im Grunde die Philosophie des Kompromisses. Die ist nach wie vor wichtig: die Durchsetzer, die Ideologen, die haben die Welt stets mehr gefährdet als die Kompromiss-Sucher. Der Versuch, die Welt auch mit dem Kopf des Anderen zu sehen, ist für eine Demokratie sehr nützlich. In Bonn gehörte das zur Tradition.

Sind Sie heute noch einverstanden mit Ihrer damaligen Entscheidung?

Blüm: Ja, das bin ich. Aber ich gehöre auch zu denen, die sagen, das Spiel ist längst abgepfiffen. Es werden keine Tore mehr geschossen. Nachzutrauern ist völlig nutzlos. Allerdings bei einer umgekehrten Entscheidung würden die Berliner heute noch nachspielen...

Eine Befürchtung hat sich übrigens nicht bestätigt – Bonn ist durchaus nicht verarmt.

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