Migration Seehofer wirbt für Unterstützung bei Seenotrettung

Berlin · Vor einem Jahr setzte Horst Seehofer in der Flüchtlingspolitik Signale der Abschreckung. Heute macht er das Gegenteil. Doch wie lange fährt er seinen neuen Kurs?

 Horst Seehofers (r.)  Übergangslösung für Seenotrettung kommt kaum voran.

Horst Seehofers (r.) Übergangslösung für Seenotrettung kommt kaum voran.

Foto: dpa/Jonathan Borg

Angela Merkel führt ihre Ausdauer auf "kamelartige Fähigkeiten" zurück. Sie verfüge über eine gewisse Speicherfähigkeit, erzählte sie einmal. Vielleicht besitzt ihr lange schärfster Widersacher, Horst Seehofer, dann chamäleonartige Fähigkeiten. Die faszinierenden Reptilien sind Verwandlungskünstler, je nach Lage können sie Gestalt und Farbe ändern.

Seehofer ist ein Meister der Wende. Vor der bayerischen Landtagswahl 2018 etwa hatte er darauf gepocht, Flüchtlinge an der Grenze zurückzuweisen, die trotz eines Aufenthaltsverbots wieder einreisen wollten. Bei einem Treffen mit dem wenig begeisterten österreichischen Bundeskanzler Sebastian Kurz wollte Seehofer von seiner eigenen Idee nichts wissen - um sie kurz darauf doch umzusetzen. Es ging um eine einstellige Zahl von Flüchtlingen pro Monat.

Aber Seehofer wollte ein Signal der Abschreckung senden. So wie bei seinem erbittert gegen Merkel verfolgten Kurs der Obergrenze für Flüchtlinge. Seehofer, der Minister der harten Linie und klaren Kante. Er dachte wohl, dass er die Umfragewerte für seine Partei verbessern und die AfD auf Abstand halten könnte. Konservative in der Union liebten ihn dafür. Doch seine Strategie ging nicht auf. Die CSU verlor in Bayern an Rückhalt, die AfD gewann bundesweit hinzu.

Regierung wäre beinahe zerbrochen

Nun setzt er eine andere Botschaft. Eine für das europäische "Wertefundament", wie Seehofer sagt. Am Dienstag warb der Innenminister in Luxemburg bei seinen EU-Amtskollegen um Unterstützung für Seenotrettung und Verteilung von Bootsmigranten. Vor zwei Wochen hatte er sich überraschend mit Italien, Frankreich und Malta auf eine Übergangslösung geeinigt. Danach sollen für sechs Monate alle Migranten, die vor Italien und Malta gerettet werden, innerhalb von vier Wochen auf EU-Staaten verteilt werden, die dem Pakt beitreten. Deutschland soll nach Seehofers Willen ein Viertel der betroffenen Menschen aufnehmen. Ist Seehofer nun ein Mann der Menschlichkeit, einer mit Herz? Warum jetzt? Hat Merkel ihn bekehrt? Hat er seine Rolle des Scharfmachers kritisch hinterfragt? Ist der 70-Jährige altersmilde oder altersweise geworden?

2016 hatte Seehofer als bayerischer Ministerpräsident der Bundeskanzlerin wegen deren humanitärer Flüchtlingspolitik eine "Herrschaft des Unrechts" vorgeworfen. Verklagen wollte er sie sogar. Die beiden konnten sich nicht mehr ausstehen. Die Arbeit in Union und großer Koalition litt darunter. Die Fraktionsgemeinschaft von CDU und CSU und fast die ganze Regierung wären daran beinahe zerbrochen. Hört man Seehofer heute sagen, dass es "unglaublich" sei, sich für die Rettung von Menschen vor dem Ertrinken rechtfertigen zu müssen, fühlt man sich an Merkel erinnert. Sie hatte auf der Höhe der Flüchtlingskrise gemahnt, wenn man sich dafür entschuldigen müsse, in Notsituationen ein freundliches Gesicht zu zeigen, sei das nicht ihr Land.

Verwandlungskünstler Seehofer

Vier Jahre liegen zwischen den beiden Sätzen des langjährigen CSU-Chefs und der langjährigen CDU-Vorsitzenden. Beide haben ihren Parteivorsitz an Nachfolger übergeben. Ihre jahrzehntelangen politischen Karrieren neigen sich dem Ende zu. Merkel hat irgendwann gesagt, dass sich ein Jahr wie 2015 mit der Aufnahme von fast einer Million Flüchtlingen nicht wiederholen dürfe. Genugtuung für Seehofer.

Im Frühjahr hatte Merkels Nachfolgerin Annegret Kramp-Karrenbauer erklärt, notfalls müssten die Grenzen geschlossen werden. Die CSU jubelte, im Kanzleramt zuckten sie zusammen. Das war ein Bruch mit Merkels Linie, die eisenhart die Haltung vertritt, dass die deutsche Grenze rein praktisch nicht geschlossen werden kann. Nun sind die Merkel-Anhänger von Seehofers Wende begeistert - und die Konservativen von ihm tief enttäuscht.

CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt hatte Seehofer bei den Signalen der Abwehr immer unterstützt. Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán, der einen Zaun an der EU-Außengrenze gegen Flüchtlinge zog, hatte Einladungen von Seehofer dankbar angenommen und sich von ihm verstanden gefühlt. Das war einmal. Ungarn will keine Flüchtlinge aufnehmen und erst recht keine Quoten erfüllen. Seehofer ist nun plötzlich auf der anderen Seite. In Luxemburg bekam er zu spüren, dass EU-Partner gegen ihn sind.

Heute findet er es beschämend, wie darüber gestritten wird, dass Deutschland in den vorigen 14 Monaten 225 Flüchtlinge aufgenommen hat, die aus Seenot gerettet wurden. Selten habe er in seiner politischen Laufbahn eine derart "schräge" Diskussion erlebt. Beschämend fanden viele Deutsche vor einem Jahr auch Seehofers öffentlichkeitswirksames Bestehen auf Zurückweisungen von einigen wenigen Flüchtlingen an der Grenze. Seehofer, das Arbeiterkind, ist ein Mann mit Gespür für die sogenannten kleinen Leute.

Aus der Nähe ist er ein Mensch, der nicht überheblich wirkt. Das C im Namen seiner Partei hat für ihn eine hohe Bedeutung. Sollten allerdings aus Hunderten Bootsmigranten Tausende werden, würde er die Malta-Vereinbarung wieder aussetzen, sagt Seehofer. Das darf man nicht vergessen: Er ist ein Verwandlungskünstler.

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