Interview mit dem Ex-Bundesaußenminister Sigmar Gabriel zum US-Truppenabzug: „Politische Bestrafung“

Interview · Sigmar Gabriel ist sofort drin an den Krisenherden dieser Welt. Der frühere Bundesaußenminister verknüpft mühelos den angekündigten US-Truppenabzug mit europäischen wie auch deutschen Versäumnissen in der Außen- und Sicherheitspolitik. Die Fragen stellte Holger Möhle.

 Sigmar Gabriel verknüpft im Interview mühelos den angekündigten US-Truppenabzug mit europäischen wie auch deutschen Versäumnissen in der Außen- und Sicherheitspolitik.

Sigmar Gabriel verknüpft im Interview mühelos den angekündigten US-Truppenabzug mit europäischen wie auch deutschen Versäumnissen in der Außen- und Sicherheitspolitik.

Foto: dpa/Britta Pedersen

Herr Gabriel, wie sehr belastet der angekündigte US-Truppenabzug die ohnehin schon belasteten deutsch-amerikanischen Beziehungen zusätzlich?

Sigmar Gabriel: Nach allem, was wir wissen, ist es tatsächlich als eine Art politische Bestrafung Deutschlands und insbesondere der deutschen Kanzlerin gemeint. Unsere Kritik an der aktuellen Politik der USA unter ihrem Präsidenten, unser Festhalten am Nuklearabkommen mit dem Iran und an den internationalen Organisationen der Vereinten Nationen sowie an der Idee des Multilateralismus, unsere ungelösten Handelskonflikte mit den USA, die deutsche Kritik an der Kündigung der großen nuklearen Abrüstungsabkommen…

…viel Holz, was stört Trump noch?

Gabriel: Unsere differenzierte Haltung zu China und auch die Weigerung Deutschlands und Europas, Russland trotz des weiterhin existierenden militärischen Konflikts in der Ukraine und der Besetzung der Krim mal eben schnell wieder zu den Treffen der sieben großen demokratischen (!) Staaten einzuladen, wie es Donald Trump vorschlägt, zeigen, wie groß die transatlantische Drift zwischen den USA und Europa im Allgemeinen sowie Deutschland im Besonderen inzwischen geworden ist.

Ist der Riss zu kitten?

Gabriel: Bei dieser Debatte gerät derzeit in Deutschland der eigentliche Kontinentaldrift zwischen Europa und den USA aus dem Blick. Denn ganz egal wie der nächste Präsident der USA heißt: Mittel- und langfristig wird es weniger US-Soldaten bei uns geben. Denn nicht erst seit Donald Trump, sondern schon unter Obama wollen die USA sich aus ihrem weltweiten militärischen Engagement zurückziehen. Die US-Bevölkerung ist kriegsmüde und der Slogan links wie rechts lautet in den USA: „Stop the endless wars.“ Das bedeutet Rück­zug aus Afghanistan, Irak, Syrien und dem gesamten Nahen und Mittleren Osten. Und wenn das passiert, braucht man weniger militärische Hubs, Versorgungseinrichtungen und Infrastruktur in Deutschland und Europa für diese Einsätze in unserer Mittelmeer-Nachbarschaft. Das Ganze wird sich nicht so erratisch wie unter Trump vollziehen, wenn es einen neuen US-Präsidenten gibt…

… sondern…

Gabriel: Wenn die USA irgendwo auf der Welt noch starke militärische Präsenz zeigen werden, dann in den Konfliktregionen im Indo-Pazifik. Wir Deutschen und Europäer wollten ja immer den Rückzug des „Weltpolizisten USA“, weil damit ja sogar völkerrechtswidrige Kriege verbunden waren. Aber wir werden uns vermutlich noch wundern, was passiert, wenn der Polizist weg ist. Im richtigen Leben beherrschen dann die Gangster die Straße. Und genau das sehen wir ja schon in den Kriegs- und Krisengebieten um uns herum. Die entscheidende Frage wird sein: Will Europa weiter zuschauen oder sich selbst einmischen? Die USA jedenfalls werden uns diese schwierige Aufgabe nicht mehr allzu lange abnehmen.

Wie sehr sind dadurch US-amerikanische wie auch Bündnisinteressen berührt?

Gabriel: Es kommt darauf an, welche Konsequenz die amerikanische Führung aus dem Abzug der Truppen aus Deutschland zieht. Natürlich könnten die USA bilaterale Stationierungsverträge mit einzelnen EU-Mitgliedsstaaten wie Polen treffen. Das hieße dann aber, dass die Nato als Zentrum der strategischen, politischen und militärischen Entscheidungen übergangen und ausgehebelt würde. Denn die Beurteilung der strategischen Konsequenzen dauerhafter Truppenverlegungen zum Beispiel direkt an die russische Grenze muss die Nato als Ganzes treffen. Würde sie umgangen, käme das einer Kastration dieses so erfolgreichen westlichen Verteidigungsbündnisses gleich. Und den Traum von einer einheitlichen europäischen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik können wir dann erstmal längere Zeit begraben. Aber möglicherweise will der amerikanische Präsident genau das. Denn von der EU hält er bekannterweise ja gar nichts.

Sehen Sie darin eine Strafaktion des US-Präsidenten für den säumigen Zahler Deutschland in der Nato?

Gabriel: Die berechtigte US-Kritik an den zu niedrigen Beiträgen Deutschlands für die gemeinsame Verteidigungsfähigkeit ist wohl eher der Anlass als der tatsächliche Grund für die Truppenreduzierung. Aber diese Kritik der USA an uns ist berechtigt. Zur Wahrheit gehört, dass die USA diese große Abhängigkeit Europas und Deutschlands von den militärischen Fähigkeiten der Amerikaner wollten. Nach zwei Weltkriegen, die vor allem von Deutschland ausgingen, war es im Interesse vieler, dass Deutschland nur begrenzte militärische Fähigkeiten haben sollte, die zudem in das System der Nato eingebunden waren. Daran haben wir Deutsche uns aber zu sehr gewöhnt.

Europa hat den Weltenwandel verschlafen?

Gabriel: Die Welt ist eine andere geworden. Die USA werden weniger europäisch sein und mehr pazifisch und es gibt gar keinen Grund, warum die USA zwei Drittel der Verteidigungslasten Europas zahlen sollten, obwohl Europa und Amerika wirtschaftlich gleich stark sind. Hier hat Donald Trump ein sehr ernsthaftes Argument. Aber auch hier machen wir Deutschen und Europäer einen dramatischen Fehler: Wir schauen immer so auf Donald Trump wie das Kaninchen auf die Schlange.

Was muss passieren?

Gabriel: Die Stärkung der europäischen Verteidigungsfähigkeit und auch des deutschen Beitrags müssen wir doch nicht machen, weil es die USA von uns fordern, sondern weil es in unserem eigenen Interesse ist. Im Übrigen finden auch eine Reihe europäischer Nachbarn unsere Haltung kritisch. „Wir kämpfen, während ihr nur fotografiert“ lautete eine Kritik eines französischen Offiziers, der damit die wachsende Verärgerung in Frankreich zum Ausdruck brachte, dass bei wirklich gefährlichen Einsätzen die Deutschen die Franzosen im Stich lassen würden.

Haben Sie die Hoffnung, dass ein US-Präsident Joe Biden die Ankündigung Trumps tatsächlich zurückdrehen würde?

Gabriel: Die kurzfristige Truppenreduzierung in Deutschland möglicherweise, die langfristige Abwendung der USA von Europa und dem Nahen Osten hin zu ihren Interessen im Pazifik wird er nicht verändern. Warum sollte er auch? China ist der große politische, technologische und irgendwann auch militärische Konkurrent der USA. Russland ist derzeit eher das, was Helmut Schmidt einmal „Obervolta mit Atomraketen“ genannt hat: ein militärisch hoch gerüstetes Land auf sehr schwachen ökonomischen Beinchen. Kein wirklicher strategischer Konkurrent für die USA. Für uns in Europa werden das in jeder Hinsicht unbequeme Zeiten mit vielen Fragen, die es zu beantworten gilt.

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