Das späte Lob des Sigmar Gabriel SPD-Vorsitzender würdigt Reformpolitik von Schröder

BERLIN · Sigmar Gabriel, zwölf Jahre jünger und damals nach einer krachenden Wahlniederlage in Niedersachsen von einem Posten im Bundeskabinett eine gefühlte Erdumrundung entfernt, hätte den Aufsatz so nicht geschrieben. Auch Andrea Nahles, im Jahr 2003 noch Chefin im "Forum Demokratische Linke 21" in der SPD, hätte das Papier so nicht verfasst.

 Stimmungswandel: Arbeitsministerin Andrea Nahles, SPD-Chef und Vizekanzler Sigmar Gabriel.

Stimmungswandel: Arbeitsministerin Andrea Nahles, SPD-Chef und Vizekanzler Sigmar Gabriel.

Foto: dpa

Ein Text, in dem Gabriel und Nahles gemeinsam die noch bis heute in Teilen der SPD ungeliebten Hartz-Reformen loben, wäre ihnen damals nicht in den Sinn gekommen. Beide waren einst scharfe Kritiker der Reformagenda des damaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder (SPD). Doch die Zeiten ändern sich. Und mit ihnen auch der Blickwinkel auf Dinge von damals.

Gabriel, seit 2009 SPD-Vorsitzender und seit Ende 2013 auch Vize-Kanzler einer großen Koalition, hat jetzt mit Nahles, heute Bundesarbeitsministerin, doch tatsächlich die Hartz-IV-Reformen gewürdigt, mit denen die damalige rot-grüne Bundesregierung unter Führung Schröders Arbeitslose zwingen wollte, Arbeit schneller und auch unterhalb ihrer eigentlichen Qualifikation anzunehmen. In einem gemeinsamen Artikel für die "Süddeutsche Zeitung" kommen Gabriel und Nahles zu dem Ergebnis: "Dass aber die Reformen der Agenda 2010 einen großen Anteil an der erfolgreichen Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit hatten, ist unbestreitbar. Ebenso wie die Tatsache, dass die SPD dafür einen hohen Preis gezahlt hat."

Unter der Überschrift "Die Fragen von morgen" loben Gabriel und Nahles ausdrücklich Schröder und dessen rot-grüne Bundesregierung, betonen aber auch andere "Facetten" der damaligen Reformwende. Die Agenda 2010 habe nicht nur Reformen am Arbeitsmarkt umfasst, "sondern auch Milliarden-Investitionen in Kinderbetreuung, Ganztagsschulen, in Forschung und Entwicklung und in erneuerbare Energie". Die Reformpolitik habe dazu beigetragen, Deutschland als international wettbewerbsfähigen Standort zu erhalten. Damit hätten Schröder und die von ihm geführte Bundesregierung "eine Alternative zu dem verhängnisvollen Weg der angelsächsischen Länder in eine von der Finanzwirtschaft abhängige Gesellschaft" geschaffen. Dies seien auch "entscheidende Gründe" gewesen, warum Deutschland besser aus der weltweiten Finanzkrise 2008 und 2009 herausgekommen sei "als alle anderen Industrienationen".

Das Lob für Schröder ist in diesem Fall auch deshalb erstaunlich, weil sowohl Gabriel als auch Nahles teils harsche Kritik an der Reformagenda geäußert hatten. Der damalige Ministerpräsident Gabriel hatte sich 2002, Monate vor der Landtagswahl in Niedersachsen, gemeinsam mit anderen SPD-Landesfürsten, deutlich von seinem einstigen Förderer Schröder distanziert. Unter anderem zettelte Gabriel mit dem damaligen rheinland-pfälzischen Ministerpräsidenten Kurt Beck eine innerparteiliche Debatte an, die Vermögensteuer wiedereinzuführen, um mit den Einnahmen mehr Bildung zu bezahlen. Nach der im Februar 2003 für die SPD verlorenen Landtagswahl in Niedersachsen forderte Gabriel, dann in der Rolle als Oppositionsführer, auf die geplante Senkung des Spitzensteuersatzes von 45 auf 42 Prozent zu verzichten. Wenn die Regierung von Arbeitslosen und Kleinverdienern Veränderungen verlange, "können die Reichen nicht abseits stehen", so Gabriel damals. Auch der damalige saarländische SPD-Chef Heiko Maas, heute Bundesjustizminister, schloss sich Gabriels Forderung an. Schröder blieb unbeirrt: Die Steuersenkung von 45 auf 42 Prozent "ist beschlossen und die wird auch durchgeführt". Nahles ging damals noch härter mit Schröder und dessen Reformpolitik ins Gericht. Sie nannte die einschneidenden Leistungskürzungen "konzeptlos, perspektivlos, instinktlos".

Anders heute. An der Seite von SPD-Chef Gabriel stellt die Bundesarbeitsministerin den deutlichen Rückgang der Arbeitslosenzahl in Deutschland als Folge der Reformpolitik heraus. Zugleich aber betonen Gabriel und Nahles in ihrem Text, dass die Agenda 2010 "Unsicherheiten ausgelöst" habe, "deren Ausmaß und Auswirkungen wir unterschätzt haben". Sie räumen ein: "Wir haben zu wenig Unterschied gemacht zwischen jenen, die Zeit ihres Lebens hart gearbeitet haben, und anderen, für die dies nicht gilt."

Gabriel und Nahles wähnen sich bei allem Blick zurück in der richtigen Spur. So wie die SPD Anfang des Jahrtausends den Mut zu handeln gehabt habe, so wolle sie auch nun wieder Fortschritt und Zukunft gestalten. "Dieser Artikel soll ein Anstoß sein, über ein Morgen zu reden, das besser ist als das Gestern", schließen sie.

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