Tag der Pressefreiheit Desinformation tötet - ganz direkt und unmittelbar

Exklusiv | Bonn · Nach den Pro-Brexit-Feldzügen, dem Wahlsieg Donald Trumps mit Hilfe von Putins Trollen, nach der Pandemie-Infodemie und im Gewirbel der Fake News zum Ukraine-Krieg sind drei Befunde zur Zukunft des Journalismus unabweisbar. Ein Gastbeitrag des Medienwissenschaftlers Bernhard Pörksen.

 Grafik-Karte Nr. 104090, Querformat 135 x 105 mm, "Pressefreiheit 2022 (SPERRFRIST: 3. Mai 6 Uhr; Print: frei für die Dienstagsausgaben). Redaktion: J. Schneider; Grafik: A. Rigamonti

Grafik-Karte Nr. 104090, Querformat 135 x 105 mm, "Pressefreiheit 2022 (SPERRFRIST: 3. Mai 6 Uhr; Print: frei für die Dienstagsausgaben). Redaktion: J. Schneider; Grafik: A. Rigamonti

Foto: dpa/Florian Kleinschmidt

Manchmal, in dunklen, pessimistischen Momenten, denke ich: Was muss eigentlich noch passieren, bevor eine lethargische Bildungspolitik – trotz des Desinformationsgewitters der Gegenwart – aus ihrem Tiefschlaf erwacht? Was braucht es, bevor die Medienpädagogik ihr oft anspruchsloses, verdruckst-opportunistisches Herumgefloskel über irgendwelche Digitalkompetenzen einstellt und endlich zu einer klaren Sprache findet? Und was muss geschehen, bevor die offene Gesellschaft begreift, dass sie mit ihrer Weigerung, Medienbildung mit normativer Entschiedenheit zu betreiben, sehenden Auges ihre eigenen Grundlagen zerstört?

Nach den Pro-Brexit-Feldzügen, dem Wahlsieg Donald Trumps mit Hilfe von Putins Trollen, nach der Pandemie-Infodemie und im Gewirbel der Fake News zum Ukraine-Krieg sind drei Befunde unabweisbar.

Wir brauchen Konsens, Kompromissfähigkeit und Konzentration

Erstens destabilisiert die systematische Verschmutzung der Informationskreisläufe überall auf der Welt Demokratien und verleiht Antiliberalen Auftrieb, wie aktuelle Studien im Detail zeigen.

Zweitens sind die asymmetrischen Wahrheitskriege skrupelloser Populisten im Verbund mit den Fehlanreizen der sozialen Netzwerke – Dissens schüren, aufpeitschen, emotionalisieren – geeignet, die Fähigkeit von Politik und Gesellschaft zu untergraben, aktuelle Großkrisen zu lösen. Denn diese Krisen setzen einen basalen Realitätskonsens, einen gemeinsamen Fokus und ein Denken in der langen Linie voraus. Wenig ist also gerade jetzt so nötig wie die Kombination von Konsens, Kompromissfähigkeit, Konzentration und langfristiger Strategiebildung. Und doch wird genau diese Gesprächs- und Strategiefähigkeit ganzer Gesellschaften im Zusammenspiel von gezielter Propaganda und algorithmischer Plattform-Logik unterminiert.

Tag der Pressefreiheit: Gastbeitrag Bernhard Pörksen - Desinformation tötet
Foto: Grafik/GA

Und drittens ist längst offensichtlich, dass Desinformation tötet, und zwar ganz direkt und unmittelbar. Denn irgendwann greifen die ­­QAnon-Spinner zu den Waffen oder stürmen das Kapitol. Irgendwann schießen die Reichsbürger um sich. Und nur mal nebenbei: Durchschnittlich 40 Minuten nach der Installation der TikTok-App sind die oft sehr jungen Userinnen und User das erste Mal mit Falschmeldungen und russischer Propaganda aus dem Ukraine-Krieg konfrontiert. Sie sehen Video-Fakes, aber natürlich auch authentische Bilder, Explosionen, Erschießungen, ein endloses Mischprogramm aus Lüge, Wahrheit und Gewalt, ungefiltert, ohne klärende Einordnung.

Was also tun? Was mir Hoffnung macht: Es zeichnet sich, von der Öffentlichkeit noch weitgehend unbemerkt, seit ein paar Jahren eine Art Graswurzelrevolution der Medienbildung ab, die aus dem Journalismus kommt. Seit 2019, so berichtet beispielsweise der Verein „Journalismus macht Schule“, war man in Tausenden von Schulen überall in Deutschland. Es gab Schüler- und Lehrermedientage, Online-Workshops, Podcasts, Medien-Projekte und Lehrer-Fortbildungen, Seminare an Volkshochschulen und Unis in gewaltiger Zahl.

Tag der Pressefreiheit: „Prüfe erst, publiziere später!“

Dabei sind jede Menge neue, faszinierende Initiativen und Kooperationen entstanden – zwischen regionalen und überregionalen Zeitungen und dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk, den verschiedensten Stiftungen, Bildungseinrichtungen und Medienhäusern. Viele prominente Journalistinnen und Journalisten machen mit, engagierte Lehrerinnen und Lehrer sind dabei, einfach so, oft in ihrer Freizeit, ehrenamtlich. Auch heute, am Internationalen Tag der Pressefreiheit, finden verschiedenste Veranstaltungen statt. Die Grundidee dieser Medienbildungsoffensive von unten ist bestechend einfach. Sie besagt: Journalismus ist viel mehr als ein Beruf. Denn in den journalistischen Idealen und Maximen – „Prüfe erst, publiziere später!“, „Analysiere Deine Quellen!“, „Höre auch die andere Seite!“, „Orientiere Dich an Relevanz und Proportionalität!“, „Sei skeptisch!“ – liegt eine konkrete Kommunikationsethik, die heute alle angeht. Natürlich gibt es auch schlechten Journalismus, Herden- und Meutenverhalten, sinnloses Stichflammen-Spektakel, klar. Aber in der Kenntnis der basalen journalistischen Regeln der Informations- und Quellenprüfung steckt tatsächlich eine Chance. Hier sind die Anfänge einer praktischen Utopie zu entdecken. Hier findet sich ein Ausweg aus dem Desinformationsspektakel in Richtung einer redaktionellen Gesellschaft von Bürgerinnen und Bürgern, die medienmächtig sind und medienmündig.

Ist damit alles gelöst? Gewiss nicht. Und doch: Es könnte und sollte allmählich ein großes Gespräch über publizistische Maßstäbe und die Schulung der Urteilskraft entstehen. Es wäre ein Austausch, der auch dem Journalismus nützen könnte und der eine bestenfalls verschlafene Bildungspolitik inspiriert, die – jenseits einer bloß naiv-modischen Technikfaszination – dringend normative Klarheit braucht. Vielleicht haben Sie, liebe Leserin, lieber Leser, also Lust, am Tag der Pressefreiheit mit ein paar Menschen Ihrer Wahl über die neuartige Macht der Propaganda, den Wert des unabhängigen Journalismus und die besten Wege zur Medienmündigkeit zu debattieren? Damit wäre viel gewonnen, denke ich. Die Idee der redaktionellen Gesellschaft wäre dann, und sei es nur für einen Tag, ein Stück gelebter Wirklichkeit.

Über den Autor: Bernhard Pörksen ist Professor für Medienwissenschaft. Zum Tag der Pressefreiheit hat er exklusiv für die Zeitungen in Deutschland einen Essay über die Gefahr von Fake News verfasst.

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