Thema des Jahres - Erfüllung eines Lebenstraumes

Nach massivem politischen Druck fällt am 9. November die Mauer. Es gibt viele Erklärungen, warum es gerade an diesem 9. November abends, um 18.53 Uhr, zu dieser Entwicklung kommen musste.

 Unter wachsendem Druck der mehr Freiheit fordernden DDR-Bevölkerung wurde die Berliner Mauer am Abend des 9. November 1989 geöffnet.

Unter wachsendem Druck der mehr Freiheit fordernden DDR-Bevölkerung wurde die Berliner Mauer am Abend des 9. November 1989 geöffnet.

Foto: dpa

Die internationale Politik hatte vorgearbeitet. Die politische Aufweichung des Ostblocks ist unlösbar mit dem Prozess der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) verbunden, der dem Ostblock die Abschottung immer schwieriger machte. Hinzu kam eine Bonner Deutschlandpolitik, die - unter Achtung der Eigenstaatlichkeit - auf eine immer stärker werdende auch wirtschaftliche Kooperation setzte.

Am Ziel der deutschen Einheit wurde aber bei aller Kooperation grundsätzlich festgehalten. Erich Honecker besuchte 1987 die Bundesrepublik - eine historische Visite, die es Bundeskanzler Kohl aber auch ermöglichte, die offenen Gegensätze zwischen beiden Systemen vor der Weltöffentlichkeit zu benennen.

Wichtiger Faktor: Mit dem Namen des sowjetischen Staats- und Parteichefs Michail Gorbatschow waren Begriffe wie "Glasnost" und "Perestroika" verbunden. Der Ostblock war nicht länger monolithisch. In der Tschechoslowakei setzten sich die reformerischen Bewegungen immer stärker durch. Ungarn hatte sich ohnehin schon eine unabhängige Rolle erkämpft.

Bilder rund um die Berliner Mauer
27 Bilder

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Einzig Rumänien und die DDR verharrten im blinden Glauben an den Kommunismus. Erich Honecker reimte noch wenige Tage vor seiner Ablösung: "Den Sozialismus, in seinen Lauf, hält weder Ochs noch Esel auf." Natürlich unterstützte der SED-Chef auch die blutige Niederschlagung des Studentenprotestes in Peking.

Eine wesentliche Voraussetzung war der Machtverfall Erich Honeckers. Nach übereinstimmenden Schilderungen mehrerer Politbüro-Mitglieder war der SED-Staats- und Parteichef der letzte in der senilen Diktatoren-Riege, der die Massenflucht von DDR-Bürgern über die ungarisch- und tschechisch-österreichische Grenze mit polizeilichen, vielleicht sogar militärischen Mitteln stoppen wollte. Alle anderen Politbüro-Mitglieder hatten für einen Dialog votiert. Honecker wurde am 7. Oktober zum Rücktritt gezwungen.

Eine dritte Voraussetzung: Die Zivilcourage der Bürgerbewegung. Monatelang zogen erst hunderte, dann tausende, schließlich zehntausende Menschen durch die Innenstadt zunächst in Leipzig, dann in anderen DDR-Städten. "Wir sind das Volk", skandierten sie. Die Polizei reagierte zunächst aggressiv; später hielt sie sich zurück. Die Bilder von den Demonstrationen flimmerten weltweit über die Bildschirme.

Ein zudem wirtschaftlich marodes System befand sich also im Auflösungsprozess. Die Unzufriedenheit in der Bevölkerung wuchs massiv. An jenem 9. November verlas um 18.53 Günter Schabowski, DDR-Regierungssprecher, den geschichtlichen Beschluss des DDR-Ministerrates: "Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen beantragt werden. Die Genehmigungen werden kurzfristig erteilt."

Aber Schabowski macht einen Fehler. Die Staatsspitze hatte den 10. November als Gültigkeitsdatum bestimmt. Der Sprecher antwortete der Presse aber auf die Frage nach der Gültigkeit: "Wenn ich richtig informiert bin, nach meiner Kenntnis unverzüglich." Die Journalisten meldeten die Neuigkeit binnen Sekunden in die ganze Welt.

Die Folgen dieser Aussage sind hinlänglich bekannt. Binnen weniger Minuten bewegen sich im Ostteil Berlins unübersehbare Menschen- und Autoschlangen Richtung Mauer. Die DDR-Spitze entscheidet sich, um eine Konfrontation mit der Staatsmacht zu vermeiden, für die Öffnung der Mauer. In Bonn tagte am Mauerfall-Abend der Bundestag. Er unterbricht seine Routine-Beratungen spontan; es entwickelt sich eine improvisierte deutschlandpolitische Debatte. Am Ende erheben sich die Abgeordneten und singen die Nationalhymne.

Es kam zu einem gigantischen Wiedervereinigungsfest. Am nächsten Tag entfernten DDR-Grenzer Mauerteile, um neue Durchgänge zu schaffen. 53 000 Menschen passierten in den ersten 24 Stunden die Grenzübergänge. Von ihnen meldeten sich 3200 als Übersiedler. Grenzbeamte sprachen nach Jahrzehnte langem Schweigen erstmals wieder miteinander.

Am Abend des Tages 1 nach dem Mauerfall eine Kundgebung vor dem Schöneberger Rathaus. Bundeskanzler Kohl hatte einen Polen-Besuch unterbrochen und war mit Außenminister Hans-Dietrich Genscher gekommen. Er trifft auf merkwürdige Reaktionen: Pfiffe bei seiner Rede, Buh-Rufe, als er zusammen mit Willy Brandt, Genscher und dem Berliner Regierenden Bürgermeister Walter Momper die Nationalhymne anstimmt.

Später wird Kohl bei einer CDU-Veranstaltung von 100 000 Menschen umjubelt. Dass der beginnende Einigungsprozess in einem hochsensiblen Rahmen beginnt, zeigt sich an einer Episode: Gorbatschow ruft Kohl während einer Kundgebung an und mahnt zur Besonnenheit. Moskaus Außenminister Schewardnadse rügt am nächsten Tag, der deutsche Kanzler habe bei seinen Auftritten Thesen vertreten, die "zu Besorgnis Anlass geben". Kohl hatte nichts anderes getan als für das deutsche Selbstbestimmungsrecht plädiert.

Es begann eine diplomatische Mammutleistung, die unter dem Namen Zwei-plus-Vier-Prozess bekannt geworden ist. Die beiden deutschen Staaten verhandelten mit den vier Besatzungsmächten schließlich über die Rahmenbedingungen zur deutschen Einheit. Erst als Michail Gorbatschow im Februar 1990 den Deutschen zusicherte, dass es keinen Zusammenhang zwischen seiner Zustimmung und der Bündniszugehörigkeit eines geeinten Deutschlands gebe, war klar, dass die Jahrzehnte der deutschen Spaltung vorübergehen würden. Ein politischer Lebenstraum im Nachkriegsdeutschland war in Erfüllung gegangen.

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