Tod an Heiligabend 1944 Briefe an einen gefallenen Soldaten

An Heiligabend 1944 starb Frank Vollmers Großvater in Hitlers letzter Offensive an der Westfront. Bis die Großmutter von seinem Tod erfuhr, hat sie ihm noch siebenmal geschrieben.

Josefine und Gotthold Schillinger, der Großvater von Frank Vollmer: Hochzeitsbild vom 20. August 1944.

Josefine und Gotthold Schillinger, der Großvater von Frank Vollmer: Hochzeitsbild vom 20. August 1944.

Foto: RP

Der 24. Dezember 1944 ist ein Sonntag. Heiligabend, für weite Teile des Kontinents bis heute der letzte in Kriegszeiten. Meteorologisch ein freundlicher Tag in Deutschland. Und kalt im Osten: minus drei Grad in Berlin. Am Rhein dagegen Tauwetter: plus zwei Grad in Köln. Die BBC meldet, dass Bandleader Glenn Miller auf dem Flug von England nach Paris verschollen ist. Im Ärmelkanal vor Cherbourg versenkt das deutsche U-Boot U-486 den belgischen Truppentransporter „Léopoldville“. 800 Soldaten ertrinken.

Das Kriegstagebuch des Oberkommandos des Heeres notiert für den 24. Dezember 1944 schwere Kämpfe in Ungarn und in der Slowakei; sowjetische Truppen stehen vor Budapest. Heftig gekämpft wird auch in Bosnien und bei Ravenna, ruhig ist es in Norwegen und Dänemark. Bomben fallen unter anderem auf Trier, Darmstadt und Worms. Für die Westfront, Luxemburg, Heeresgruppe B, 7. Armee, ist vermerkt: „Auf breiter Front setzte der Feind mit Infanterie- und Panzer-Kräften zum geschlossenen Angriff nach Nordosten an und konnte tiefe Einbrüche erzielen. Die schweren Kämpfe dauern fort.“

Am 24. Dezember, vermutlich vormittags, stirbt in diesen „schweren Kämpfen“ bei Heiderscheid in Luxemburg mein Großvater, der Wehrmachts-Oberfeldwebel Gotthold Schillinger, genannt Hold oder Holde, 29 Jahre alt, 2. Panzer-Füsilier-Kompanie der „Führer-Grenadier-Brigade“, gelernter Metzger aus Weiler zum Stein bei Stuttgart, Berufssoldat seit 1937, durch den Volltreffer einer amerikanischen Panzerabwehrkanone. In den Akten steht: Er ist verbrannt. Dies ist die Geschichte von ihm und meiner Großmutter Josefine Kesselmeier, genannt Finchen, damals 31, Buchhalterin aus Paderborn.

Familiäre Quellenlage ist zwiespältig

Mehrere Dutzend Briefe der beiden bewahren diese Geschichte. Sieben dieser Briefe hat 75 Jahre lang niemand gelesen. Für diesen Text haben wir sie wieder geöffnet. Es sind die Briefe, die meine Großmutter ihm nach dem 24. Dezember schrieb, bevor sie erfuhr, dass er gefallen war. Sie hat sie mit dem handschriftlichen Vermerk wiederbekommen: „Zurück. Empfänger gefallen für Großdeutschland“. Sieben Briefe an einen Toten.

Die Sache betrifft mich dreifach: als Journalisten, als Historiker und als Enkel. Sie ist Geschichte im dreifachen Sinn: eine Geschichte, Geschichte als Historie, meine Geschichte. Der Journalist erkennt in der Dramatik der Umstände „eine Geschichte“. Der Historiker versucht, durch Archiv- und Bibliotheksrecherche Lücken zu schließen; er rekonstruiert Geschichte. Dem Enkel, Jahrgang 1976, schnürt es die Kehle zu. Es ist ja seine Geschichte. Diese Briefe zeigen, warum es mich gibt – und wie unwahrscheinlich das war.

Die familiäre Quellenlage ist zwiespältig. Es liegen vor: 56 Briefe und Karten meiner Großmutter an meinen Großvater, nur ein kleiner Teil dessen, was sie tatsächlich geschrieben hat; zehn Briefe weiterer Familienmitglieder, aber – außer einigen Widmungszeilen auf der Rückseite von Fotos – nur zwei Karten und zwei Briefe meines Großvaters an meine Großmutter. Die Karten sind weitgehend belanglose Grüße von unterwegs, ein Brief beschäftigt sich mit allerlei Vorkehrungen für die Hochzeit.

Der zweite allerdings ist vermutlich auch sein letzter, vier Tage vor seinem Tod geschrieben auf dem Weg an die Front. Und ihre Briefe spiegeln seine, indem sie antworten und Stimmungen aufnehmen. Archivunterlagen haben meine Kenntnisse über seine militärische Laufbahn und die Umstände seines Todes vervollständigt – und zutage gefördert, dass er am 1. Mai 1933, mit gerade 18 Jahren, in die NSDAP eintrat. Mitgliedsnummer 2925568.

Finchen und Hold also. Die Freiheit des öffentlichen Duzens nehme ich mir als Enkel. Ich kann nicht rekonstruieren, wie sich die beiden getroffen haben, wohl aber, wo und wann: am Freitag, 29. Januar 1943 im Standortlazarett Paderborn. In Finchens Taschenkalender steht für diesen Tag: „Heut sah ich meinen Hold zum ersten Mal.“ Der ist drei Tage vorher mit dem Lazarettzug 1134 gekommen – „Schussbruch rechter Oberschenkel“ vermerkt die Krankenakte, „Nierenentzündung, Sehnenscheidenentzündung, schlechtes Gebiss“.

Es ist seine vierte Verwundung, die erste schwere, von Ende November 1942. Da ist seine Infanterie-Division „Großdeutschland“ bei Rschew in Russland eingesetzt. Ein ganzes Jahr lang wird dort, 200 Kilometer westlich von Moskau, gekämpft und gestorben. Drei Verwundungen zuvor, alle an der Ostfront (linker Arm, rechter Arm, rechtes Schienbein), musste er an der Front auskurieren. Die dritte bringt ihn erst ins Lazarett ins besetzte Polen, dann für gut acht Monate nach Paderborn.

Die erhaltenen Briefe setzen danach ein, im November 1943; Hold ist jetzt in Cottbus, beim Infanterie-Ersatz-Regiment „Großdeutschland“, zwischendurch 1944 auch in Dänemark. Ein Kasernenjob, weit weg von der Front. Die grammatische Form der Beziehung der beiden ist das Futur: gegenseitige Bestärkungen darüber, was nach dem Krieg kommt. „Diese schöne Zeit, die wir hier verlebten, wird sich doch wiederholen, und einmal wird es so weit sein, dass es immer so sein kann“, schreibt Finchen.

Heiratspläne gibt es Ende 1943 schon: „Mein Mann, kann ich dann sagen. Das ist so seltsam schön. Du bist doch nun mein Bräutigam und schon mein halber Herr. Du weißt ja, der Herr, aber nicht der Herrscher.“ Geheiratet wird schließlich am 20. August 1944, mit einer Lebensmittel-Sonderzulage für zwölf Personen des Paderborner Ernährungsamts.

Die kurzen Zeiten zu zweit sind kostbar, wie in jeder Fernbeziehung, und deshalb anfällig für überspannte Erwartungen. Finchen und Hold treffen sich in Cottbus, in Paderborn und bei den Schillingers in Bad Cannstatt und Weiler; bei einem der letzten Treffen scheint es Streit gegeben zu haben, was nach dem Abschied zu bitteren Selbstanklagen führt.

Finchens Umzug nach Cottbus zerschlägt sich ebenso wie Holds Versetzung ins Rheinland. Vor allem aber spricht aus den Briefen: Erfüllung, Freude, Liebe – häufig freilich gemischt mit der Sorge, so könne es doch nicht bleiben: „Wir haben uns kennenlernen müssen. Ich denke immer, das Glück ist zu groß. Ich fürchte, dass wir schlimme Zeiten bekommen. Aber ich hoffe, dass ich mit meinen Befürchtungen nicht recht behalte.“

Die andere große Angst heißt: Fronteinsatz. „Wenn du nur nicht an die Front kommst. Ich denke immer daran und habe heute schon Angst, dass ich dich verlieren könnte. Holde, ohne dich will ich auch nicht leben.“ Die Front, das ist immer Russland – nicht Italien, wo seit 1943 gekämpft wird, oder Frankreich, wo im Juni 1944 die Alliierten gelandet sind. Der Osten ist das Schreckbild. „Wenn nur mein lieber Strolch nicht mehr nach Russland braucht“ – ein Leitmotiv.

Russland nicht mehr. In den Westen. Die Front steht Ende November im Süden der Niederlande und an der Reichsgrenze; Aachen ist seit Ende Oktober als erste deutsche Großstadt befreit. Im Süden Belgiens und im Norden Luxemburgs, so plant es Hitler, sollen 200 000 Mann antreten, um die alliierte Front zu durchbrechen und Antwerpen zurückzuerobern. Das werde, verspricht Hitler, die West­alliierten so schockieren, dass man über einen Frieden verhandeln könne.

 Die Hochzeitsanzeige von August 1944.

Die Hochzeitsanzeige von August 1944.

Foto: RP

Ardennenoffensive beginnt

Am 16. Dezember beginnt die Ardennenoffensive. Ihr Ziel ist völlig unrealistisch, aber zu Beginn erzielen die Deutschen tatsächlich Erfolge, weil die Alliierten überrascht sind – und weil der Wehrmacht das Wetter hilft: Die dichten Wolken verhindern Luftangriffe. Hold Schillingers neuer Verband heißt Führer-Grenadier-Brigade – aus der Division „Großdeutschland“ und als Reserve direkt dem Oberkommando der Wehrmacht unterstellt.

In amerikanischen Werken wird sie bisweilen als Eliteverband geführt; der Militärhistoriker Russell F. Weigley hat ihre Soldaten als „handverlesene junge Nazis“ bezeichnet. Darüber, wo mein Großvater politisch stand, weiß ich letztlich nichts. Ob seine Parteimitgliedschaft eine Überzeugungstat war oder ein Akt des Opportunismus, kann mir niemand mehr beantworten.

Finchen weiß, dass er an die Front kommt, aber noch nicht, an welche. Wenige Tage zuvor haben sich die beiden in Cottbus zum letzten Mal gesehen. „Herzl, ich bin so froh, dass ich dich noch einmal besucht habe“, schreibt Finchen am 13. Dezember: „Es waren so schöne Tage. Holde, so muss unser ganzes Leben sein.“ Diese Briefe erreichen Hold schon nicht mehr; Finchen erhält sie zurück und schickt sie nach Weihnachten erneut ab.

Die Führer-Grenadier-Brigade wird zunächst zurückgehalten. Am 20. Dezember aber geht es Richtung Front. Eine Pause nutzt Hold zu einem Brief:

„Meine liebe kleine Frau!

Zum Zeichen, dass ich immer an dich denke, will ich schnell ein Lebenszeichen von mir geben. Es geht mir immer noch gut, und das ist doch die Hauptsache. Meine Erkältung ist fast zurückgegangen, nur ein wenig Halsschmerzen habe ich noch. Aber das wird sich auch vollends legen.

Ach Herzl, ich habe doch so schrecklich Heimweh nach dir. Wenn ich nur bei dir sein könnte, dann wäre alles gut. Glaube mir, Liebling, ich komme mir so verlassen und hilflos vor. Wenn ich nur wenigstens Post von dir bekäme, dann wäre alles gut. Herzl, hoffentlich bekommst du meine Post laufend. Dass du weißt, wie es mir geht.

In diesem Jahr werden wir wohl keine Post mehr zu erwarten haben. Ist das nicht schrecklich für mich? Finchen, an Weihnachten darf ich gar nicht denken, denn wir merken ja sowieso nichts davon.“

Fürwahr ein Lebenszeichen, sein letztes. Die selbst gestrickten Arm- und Kniewärmer von Finchen sind nie angekommen. Briefe, die Hold auf dem Weg an die Front geschrieben hat, treffen erst im Januar in Paderborn ein. Beide schreiben in einen Nebel hinein. Ein Dialog ist nicht mehr möglich, nur noch gegenseitige Zurufe.

Der Rest des Briefs: Vorteilhaftes und Unvorteilhaftes über Kameraden, Fragen, wie es den Eltern geht, schwäbelnder Zweckoptimismus („Menschen, wo sich dumm anstellen, die haben am meisten Glück“). Und dann die wohl letzten Zeilen, die er seiner Frau schreibt:

„Mein liebstes Finchen, nun muss ich so langsam schließen, denn es geht in einer halben Stunde wieder weiter. Nun muss ich noch sehen, wie ich deinen Brief loswerde. Und nun, mein Liebling, sende ich dir für heute die besten Grüße und viele liebe Küsschen

Dein dich immer liebender Holde.

Auf Wiedersehen, mein herzallerliebstes Finchen.

Mach’s gut und bleib mir immer recht lieb und brav.

Entschuldige die Schrift, ich musste auf meinem Fahrzeug schreiben.“

Dass Finchen schwanger ist, erfährt Hold nie. Auch nicht ihren Weihnachtswunsch: „Mein liebster Holde, welcher meiner Briefe wird dich zu Weihnachten erreichen? Ich wünsche in jedem ein friedliches, glückliches Weihnachtsfest. Es soll dich erinnern, dass ich dich sehr liebe und ganz besonders Weihnachten an dich denke. Mein Weihnachtswunsch in diesem Jahr wird sein: Lieber Gott, beschütze mir das Liebste, was ich besitze, meinen Holde.“

Das Weihnachtsgebet bleibt unerhört. Am 24. Dezember wendet sich das Blatt im Westen: Wegen des klaren Wetters können Amerikaner und Briten ihre Luftüberlegenheit nutzen, zudem ist schon zwei Tage zuvor George Pattons 3. US-Armee in Luxemburg zur Gegenoffensive angetreten. Die Führer-Grenadier-Brigade soll die Amerikaner stoppen und stößt am Vormittag bei Heiderscheid auf das 319. US-Infanterie-Regiment. „A hard day‘s fight“, schreibt die amerikanische Militärchronik. 76 Tote lassen die Deutschen bei ihrem Rückzug zurück.

Vom Horror im Westen ahnt man in Paderborn. „Holde, ich verfolge mit Schrecken die Meldungen von der Westfront. Mein liebster Strolch, nach deinem letzten Briefe vor dem Einsatz bist du an der schlimmsten Stelle eingesetzt“, schreibt Finchen am 16. Januar, und sieben Tage später: „Wenn du doch nur dieser Hölle entkommst.“ Vier Wochen nach Heiligabend.

Nach Paderborn kommt der Tod erst spät – erst aus der Luft, dann per Post. Am 17. Januar trifft der erste von drei großen Bombenangriffen die Stadt. Das Haus von Finchens Schwester Toni bekommt einen Volltreffer; in den Trümmern stirbt auch die anderthalbjährige Tochter Christa, genannt Christiane. Finchens vorletzter Brief vom 21. Januar schildert in allen Einzelheiten die Zerstörungen. In der Zusammenbruchsgesellschaft der letzten Kriegsmonate zerfallen aber nicht nur die Häuser, sondern auch zivile Gewissheiten: „ Die Leute reden immer sehr viel. Heute war schon eine Tante bei uns zu Hause, sie wollte fragen, wie es ist. Man hatte ihr schon erzählt, ich wäre drunter. Auf nichts kann man was geben, die Leute machen sich gegenseitig was vor.“

Hier wird es, eine große Ausnahme, zumindest halbwegs politisch: „Liebster, hier aus diesem Elend kann uns nur der liebe Gott erretten, aber es wird leider nur von der Vorsehung gesprochen, aber ein gläubiges und andächtiges und frommes Gebet können so viele nicht sprechen, weil sie jede Religion über Bord geworfen haben. Manchmal denke ich, der liebe Gott hat sich von uns gewandt, weil wir ihn in seiner Kirche verlassen haben.“

Finchens letzter erhaltener Brief datiert vom 23. Januar 1945. Drängend, düster, zugleich voller Zuspruch.

„Herzl, ich bin nicht durcheinander, wenn Alarm kommt, ich bin ganz ruhig. Mach dir bitte keine Sorgen, Liebster, es wird schon alles gut gehen. Wenn nur der Krieg bald zu Ende geht und du wieder zu mir zurückkommst. Wenn wir auch nicht viel behalten, wenn wir nur leben.

O Holde, einmal muss dies doch ein Ende haben. Man ist ja kein Mensch mehr. Wenn nur du wiederkommst. Ich bete immer darum. Man kann gar nicht mehr an eine schönere Zukunft glauben. Das Leid, das uns umlauert, ist viel zu groß.

Herzl, ich denke immer an das Kind, das wir bekommen werden. Wenn nur der Krieg mit all diesem Elend vorbei wäre. Ich habe keine Angst, ich werde das Kind schon schützen, jetzt und auch wenn es geboren ist. O wenn ich denke, dass du dann wieder hier bist, dann kann ich mich freuen.

Liebster, geh nicht fort von mir. Ich habe dich so lieb, und nur du besitzest mein Herz. Der liebe Gott wird doch bald Erbarmen mit uns haben.

Mein liebster Holde, für heute sende ich dir liebe und herzliche Grüße und bin mit innigen Küssen

immer Dein Finchen.

Bleib gesund und komm wieder, Holde.“

Kurz danach müssen die Briefe zurückgekommen sein. Das Kind, das im Juli geboren wird, ist meine Mutter: Ursula, genannt Ulla, aber mit vollem Namen Ursula Christiane Maria – Christiane nach ihrer Großmutter und ihrer toten Cousine. Um den Leichnam von Oberfeldwebel Hold Schillinger haben sich US-Soldaten gekümmert. An Silvester 1944 um 10 Uhr morgens ist er in Sandweiler bei Luxemburg beerdigt worden.

Dort liegt er bis heute. Finchen hat das nie erfahren. Gegen Kriegsende mag das Chaos zu groß gewesen sein; sie hat aber auch nach einigen Jahren die Recherchen eingestellt und ihren Mann für tot erklären lassen. Finchen ist 69 Jahre alt geworden, dann konnte ihr Herz nicht mehr. Sie hat nicht wieder geheiratet. 127 Tagen Ehe folgten fast 39 Jahre Witwenschaft.

Grab erst 1997 ausfindig gemacht

Das Grab meines Großvaters haben wir erst 1997 ausfindig gemacht, durch eine Anfrage an den Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge. Mit 52 Jahren stand meine Mutter zum ersten Mal am Grab ihres Vaters – vier Jahre vor ihrem eigenen Tod.

Die sieben Briefe mit dem Vermerk „Zurück. Empfänger gefallen für Großdeutschland“ hat weder meine Oma noch meine Mutter je wieder geöffnet. Erst mein Vater, Holds Schwiegersohn, hat das bei den Recherchen für diesen Text getan. Er ist der Letzte der Familie, der Hold Schillinger noch erlebt hat. Dass meine Mutter ihren Vater nie gesehen hat, mein Vater seinen späteren Schwiegervater aber sehr wohl, liegt daran, dass die Familien doppelt verbunden sind: Eine Generation vor meinen Eltern hat ein Onkel meines Vaters Finchens andere Schwester Mia geheiratet – und mein Vater, Jahrgang 1937, hat ihn im Krieg bei der Verwandtschaft gesehen. In seiner Erinnerung lebt er als großer Mann mit dunklen Haaren in Uniform.

Zu Weihnachten 1944 hat Finchen an Freunde und Verwandte ihr Hochzeitsfoto verschickt. Am 26. Dezember, schreibt sie Hold einen langen Brief, fünf Seiten, einen der längsten überhaupt. Unterzeichnet hat sie geistesabwesend mit „Holde“. Davor steht dies:

„Ich kann mir denken, wo du bist und wie es dort zugeht. Wenn ich dich doch wenigstens von Zeit zu Zeit einmal sehen könnte. Ich wüsste dann, dass es dir noch gut geht, und du könntest deinen Kopf in meinen Schoß legen und ausruhen. Du weißt ja, wie lieb ich dich habe. Uns hat das Glück zusammengeführt. Niemand auf der ganzen Welt hätte mich so glücklich machen können wie du. Du bist so gut zu mir und so besorgt.

Den Gedanken, dass einmal eine Zeit kommen soll, in der es kein Abschiednehmen und keinen Trennungsschmerz und keinen Krieg und keine Sorgen um das Leben des Liebsten mehr gibt, kann ich einfach nur ganz unfassbar finden. Ich glaube, ich bin kein Optimist.

Herzl, ich habe schon so viel von dir geträumt, und du brauchtest immer meine Hilfe. Ich war dann immer bei dir. Das nehme ich als ein gutes Ahnen und hoffe, dass der liebe Gott dir einen Schutzengel schickt, der dich und dein Leben beschützt.“

Mehr als 30 000 Soldaten sind in der Ardennenoffensive gefallen – 19 000 auf alliierter, mindestens 12 000 auf deutscher Seite. In Sandweiler, wo Hold Schillingers Grab ist, liegen fast 11 000 weitere Deutsche begraben.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Der Erfolg der Entteufelung
50 Jahre Front National Der Erfolg der Entteufelung
Aus dem Ressort