Keine Zustimmung für Kindergrundsicherung Viel Diskussion um Abschaffung von Hartz IV

Berlin · Top-Ökonomen lehnen die Vorschläge von SPD und Grünen zur Reform des Hartz-IV-Systems als kontraproduktiv und unnötig ab. Auch die Kindergrundsicherung findet keine Zustimmung.

 In die Debatte um die Abschaffung von Hartz IV haben sich nun Ökonomen eingeschaltet.

In die Debatte um die Abschaffung von Hartz IV haben sich nun Ökonomen eingeschaltet.

Foto: dpa

Der Chef der Wirtschaftsweisen, Christoph Schmidt, und weitere führende Ökonomen haben die Vorstöße von SPD und Grünen zur Reform des Hartz-IV-Systems bis hin zu dessen Abschaffung als kontraproduktiv bezeichnet und scharf kritisiert. „Die Arbeitsmarktreformen der 2000er-Jahre haben dazu beigetragen, dass die Arbeitslosigkeit auf dem niedrigsten Stand seit der Wiedervereinigung ist“, sagte Schmidt unserer Redaktion. „Jetzt dem Prinzip des ,Förderns und Forderns´ abzuschwören, würde vor allem zu Lasten der Schwächsten gehen“, so der Vorsitzende des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (SVR). Ähnlich äußerten sich Michael Hüther, Direktor des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft (IW), aber auch gewerkschaftsnahe Ökonomen wie das SVR-Mitglied Peter Bofinger.

SPD und Grüne fordern unter anderem, die Sanktionen gegen Hartz-IV-Bezieher abzuschaffen, eine eigenständige Kindergrundsicherung unabhängig vom Einkommen der Eltern einzuführen, die Regelsätze anzuheben und die Hinzuverdienstmöglichkeiten zu verbessern. Grünen-Chef Robert Habeck strebt überdies eine grundlegende Reform an: Hartz IV solle überwunden und in eine Garantiesicherung umgewandelt werden, die existenzsichernd sei und oberhalb der Regelsätze liege, die auch erhalten soll, wer nicht erwerbstätig sein will. Nachweisen soll der Empfänger nur, dass er seinen Lebensunterhalt nicht aus Vermögen oder Erwerbseinkommen selbst bestreiten kann. Der Plan kommt einem bedingungslosen Grundeinkommen sehr nahe. Auch die SPD will Hartz IV hinter sich lassen. Parteichefin Andrea Nahles hat ein „Bürgergeld“ angekündigt, das Habecks Konzept ähnelt.

Kindergrundsicherung findet keine Zustimmung

Die Top-Ökonomen lehnen fast alle diese Vorschläge ab. „Gerade diejenigen mit mehreren Vermittlungshemmnissen sollten auch weiterhin auf dem Weg zurück in den Arbeitsmarkt besonders unterstützt und nicht nur alimentiert werden“, betonte SVR-Chef Schmidt. „Dazu gehören feste Strukturen, klare Regeln und ihre konsequente Einhaltung“, sagte er zum Vorschlag der Abschaffung der Sanktionen. „Ich halte wenig von einer Änderung der Sanktionen, weil wir ohne Sanktionen de facto von einem bedingten zu einem bedingungslosen Grundeinkommen übergehen würden“, warnte auch SVR-Mitglied Bofinger. „Ein solcher Systemwechsel wäre voraussichtlich sehr teuer, und das Fehlen jeglicher Arbeitsanreize wäre auch für die Betroffenen nicht unbedingt vorteilhaft.“

IW-Chef Hüther fügte hinzu: „Die einzige Gegenleistung, die der Hilfeempfänger schuldet, ist das Bemühen, künftig ohne diese Hilfe auszukommen. Dies ist gerecht, weil es fair alle Interessen berücksichtigt – auch die der Steuerzahler.“ Bofinger lehnte auch eine deutliche Anhebung der Regelsätze ab. „Eine signifikante Erhöhung der Leistungen bei Hartz IV würde dazu führen, dass der Abstand zwischen regulärer Beschäftigung und Existenzsicherung zu gering ausfiele“, sagte er.

Auch die Kindergrundsicherung findet keine Zustimmung. „Vielversprechender als höhere monetäre Leistungen an die Eltern sind Maßnahmen, die unmittelbar die Chancengerechtigkeit verbessern“, sagte SVR-Chef Schmidt. „Dazu gehören Gutscheine für öffentliche und für Bildungseinrichtungen, welche die Kinder direkt einlösen können. Ebenso sind höhere Investitionen in das Betreuungs- und Bildungssystem sinnvoll.“ Eine andere Meinung vertritt Gustav Horn, Chef des gewerkschaftseigenen Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK). „Kinder können Armut nicht durch eigenes Handeln verhindern. Insofern sollten sie garantiemäßig abgesichert sein“, sagte Horn.

"Eine kulturelle Fiktion"

Vor allem Habecks und Nahles' Konzepte für ein Bürgergeld kommen nicht gut an. „Reformen, welche die Anreize zur Aufnahme einer neuen Erwerbstätigkeit schwächen, sind kontraproduktiv. Besser wäre es, die Bereitschaft zu lebenslangem Lernen stärker zu fördern und die Betroffenen gezielt bei der individuellen Anpassung ihrer Erwerbsbiographie zu unterstützen“, sagte Schmidt.

„Die Idee des Bürgergeldes führt, wenn es nicht nur eine Namensänderung und eine Aufstockung sein soll, schnell zu einem bedingungslosen Grundeinkommen. Es stellt das Grundprinzip unseres Sozialstaats – die Erwerbsorientierung – in Frage, und zwar in einer Zeit, in der die Erwerbstätigkeit bei stabiler Qualitätsstruktur historische Höchststände im wiedervereinigten Deutschland erreicht und der Fachkräftemangel von niemandem ernsthaft mehr bestritten wird“, sagte IW-Direktor Hüther. „Es bleibt eine kulturelle Fiktion.“ Stattdessen sollten beim Arbeitslosengeld II die Hinzuverdienstmöglichkeiten verbessert, die Zahl der Betreuer in den Job-Centern und die Weiterbildungsausgaben erhöht werden.

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