Analyse zur Arbeitswelt Vier Tage sind genug

Düsseldorf · Der Ruf nach der Vier-Tage-Woche knüpft an Traditionen an. Einst ging es um menschliche Arbeitsbedingungen, dann um die Senkung der Arbeitslosigkeit. Wenn da nicht ein Denkfehler wäre.

 Drei von fünf Deutschen (61 Prozent) stehen laut einer aktuellen Umfrage einer Vier-Tage-Woche zum Schutz von Arbeitsplätzen in der Corona-Krise offen gegenüber.

Drei von fünf Deutschen (61 Prozent) stehen laut einer aktuellen Umfrage einer Vier-Tage-Woche zum Schutz von Arbeitsplätzen in der Corona-Krise offen gegenüber.

Foto: dpa/Jens Büttner

„Nach elf Stunden Arbeit, Staub und Lärm und dem Heimweg bleibt kaum noch Zeit für Hausarbeit und Schlaf, geschweige denn für die Kinder. Wir leben für den Sonntag, wenn uns ein paar freie Stunden bleiben. Wir wollen eine Stunde mehr für uns. Eine Stunde für unsere Familie. Eine Stunde fürs Leben.“ So zitiert die IG Metall eine Textilarbeiterin, die Ende des 19. Jahrhunderts in Sachsen schuftete. Der Kampf um die Zeit stand am Anfang der Gewerkschaftsbewegung. Und er geht immer weiter, auch wenn die Arbeitsbedingungen heute – gemessen an früher – paradiesisch sind.

Gerade hat Jörg Hofmann, Chef der IG Metall, vorgeschlagen, in der nächsten Tarifrunde über die Vier-Tage-Woche zu reden. Das soll Firmen in der Corona-Krise ebenso helfen wie Autoherstellern im Strukturwandel. Durch den langsamen Abschied vom Verbrennungsmotor sind in der Branche Hunderttausende Jobs bedroht.

In der Verkürzung der Arbeitszeit sah die Gewerkschaft schon immer ihre wichtigste Aufgabe. Doch die Begründung hat sich gewandelt: In den ersten Jahrzehnten ging es um menschliche Arbeitsbedingungen. Seit den 70er Jahren setzt die IG Metall auf Arbeitszeitverkürzung als Mittel im Kampf gegen Arbeitslosigkeit.

1903 nahm die Gewerkschaft den Kampf für den Zehn-Stunden-Tag auf

1891, im Gründungsjahr der Vorläufer-Gewerkschaft, arbeiteten die Industrie-Beschäftigten elf Stunden am Tag, und das sechs Tage die Woche. Immerhin war der freie Sonntag auf Druck der Kirchen schon in der Gewerbeordnung festgeschrieben. 1903 nahm die Gewerkschaft den Kampf für den Zehn-Stunden-Tag in den Textilfabriken auf, die damals so wichtig waren wie heute Autobauer. Die Arbeitgeber reagierten mit Härte: Sie sperrten unbeteiligte Arbeiter aus und heuerten Streikbrecher an. Die Gewerkschaft hielt 22 Wochen dagegen, es war einer der längsten Arbeitskämpfe in der deutschen Geschichte – und er endete mit einer Niederlage. Erst 1914 setzte sich der Zehn-Stunden-Tag durch.

Ähnlich spektakulär verlief der Kampf um die Fünf-Tage-Woche, die die Gewerkschaft der Industrie im Wirtschaftswunder-Deutschland lieferte. Das Versprechen von Ludwig Erhard, „Wohlstand für alle“, reichte den Arbeitnehmern alleine nicht mehr. Als alle im Zweiten Weltkrieg zerstörten Häuser wieder aufgebaut und die wichtigsten Konsumwünsche erfüllt waren, ging es an die Bedingungen der Produktion: „Samstags gehört Vati mir“, hieß der vielleicht beste Slogan, den sich der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) je ausgedacht hat. 1955 startete er die Kampagne für die Fünf-Tage-Woche mit 40 Arbeitsstunden. Ein kesses Kind, das der DGB plakatierte, bohrte den Arbeitgebern förmlich seinen Zeigefinger in den Wohlstandsbauch, um sie an die Familien zu erinnern. Die Kampagne zündete: Ab 1959 galt für die Bergleute die Fünf-Tage-Woche, ab 1967 gehörte auch der Papi in der Metallindustrie samstags seinen Kindern.

Dann kam die Wende: Das Wirtschaftswunder war vorbei, in den 70er Jahren stieg die Zahl der Arbeitslosen. In die Konjunktur-Abschwünge mischte sich der Strukturwandel: Roboter zogen in die Fabriken ein und machten Arbeitskräfte entbehrlich. Wie verteilt man immer weniger Arbeit auf die gleiche Zahl von Menschen? Jeder arbeitet weniger. Nach diesem Dreisatz startete die IG Metall 1977 ihre nächste Kampagne: den Kampf um die 35-Stunden-Woche. Eine Sonne, die hinter einer 35 hervorlacht, war das Plakatmotiv. „Mehr Zeit zum Leben, Lieben, Lachen – dafür steht die 35-Stunden-Sonne“, hieß es.

1984 rief die IG Metall zum großen Streik. Die Unternehmer reagierten mit massiven Aussperrungen. Keine Minute wollten sie unter die 40-Stunden-Woche gehen. „Eine halbe Million Ausgesperrte stehen vor den Betriebstoren, zehnmal so viele wie Streikende“, wetterte die Gewerkschaft. Sieben Wochen dauerte der Streik, dann einigte man sich auf einen Fahrplan für die 35-Stunden-Woche. Seit 1995 ist sie in der westdeutschen Metall- und Elektroindustrie Norm. Der Versuch allerdings, sie durch einen neuen Streik 2003 auf den Osten zu übertragen, scheiterte kläglich. Im strukturschwachen Osten hatte die IG Metall ihre Macht überschätzt.

Vier-Tage-Woche soll Unternehmen in der Not retten

Die Vier-Tage-Woche als Mittel der Krisenbekämpfung setzte auch Volkswagen ein, als in den 90er Jahren Zehntausende Arbeitsplätze bedroht waren. Peter Hartz, Vater der Agenda 2010, war damals Personalvorstand, Jürgen Peters der harte Verhandler auf der anderen Seite. Am Ende einigte man sich auf eine Verkürzung der Arbeitszeit um 20 Prozent, während die Löhne nur um zehn Prozent sanken. Teilweiser Lohnausgleich, heißt das.

Daran will Jörg Hofmann nun mit seinem Vorstoß anknüpfen: Wieder soll die Vier-Tage-Woche Unternehmen in der Not retten und Arbeitgebern wie Beschäftigten einen Beitrag abverlangen. So geht Sozialpartnerschaft, oder? Auch dieses Mal dürfte der Kampf hart werden. Vielen Firmen steht das Wasser bis zum Hals, einen Lohnausgleich können sich viele nicht leisten. Hinzu kommt ein Denkfehler: Konzepte zur Umverteilung der Arbeitszeit unterstellen, dass der Arbeitszeit-Kuchen immer kleiner wird, weshalb es für jeden nur noch ein kleineres Stück Arbeit geben kann. Auf lange Sicht ist das aber nicht so: Die Sorge, der Gesellschaft könne die Arbeit ausgehen, hat sich bislang noch immer als unbegründet erwiesen.

Die Herausforderung für die Gesellschaft in der Digitalisierung ist eine andere: Wie geht sie mit der Fragmentierung der Arbeit um? „Geteilte Schicht“, nennen es Händler, wenn ein Beschäftigter morgens drei Stunden arbeiten darf und abends noch einmal vier. Und was tut die Gesellschaft gegen das digitale Prekariat? Die Tarifbindung bei Lieferdiensten und Logistikfirmen ist nämlich viel zu gering, als dass auch das Kind vom DHL-Boten erfolgreich fordern könnte, Papi solle ihm gehören.

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