Inklusion in NRW Vom Haken mit der Inklusion

Immer mehr Schüler mit Handicap besuchen Regelschulen. Behinderte Kinder in Nordrhein-Westfalen haben seit diesem Schuljahr ein Recht auf gemeinsamen Unterricht mit nichtbehinderten - zunächst in den Klassen 1 und 5. Ein Bericht aus Elternperspektive

 Die 13-jährige Fenja mit Down-Syndrom nimmt an der Seite ihrer Mitschüler am Unterricht der 8. Klasse des Gymnasiums Marienschule teil.

Die 13-jährige Fenja mit Down-Syndrom nimmt an der Seite ihrer Mitschüler am Unterricht der 8. Klasse des Gymnasiums Marienschule teil.

Foto: dpa

Es gibt Kinder in Bonn, die eine hohe Anzahl an Fehlstunden auf ihrem Zeugnis stehen haben, obwohl sie selbst kaum krank waren. Es gibt Kinder in Bonn, die nur auf einer sehr eingeschränkten Zahl an weiterführenden Schulen angemeldet werden können. Ein Sachstandsbericht zum Thema Inklusion aus Elternperspektive.

Wenn morgens gegen 6.50 Uhr Summen eine eingehende SMS ankündigt, ist der Tag oft nicht mehr in Ordnung. "Es tut mir leid, ich kann heute nicht kommen, habe eine starke Erkältung." Die Schulbegleiterin meines Sohnes hat sich krank gemeldet. Und plötzlich fehlt ein wichtiges Puzzlestück für den Schulalltag. Jetzt heißt es, schnell zu sein und den Tag umzuorganisieren.

Schulbegleiter, in anderen Städten auch Inklusionshelfer, Schulassistenten oder Individualbegleiter genannt, unterstützen Kinder mit körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung im schulischen Alltag. Sie sind in den allermeisten Fällen konkret einem Kind zugeordnet. Was sie zu tun haben, richtet sich nach den Belangen des Kindes. Ist es motorisch eingeschränkt, geht es um die Hilfe beim Umziehen für den Sportunterricht oder beim Toilettengang. Hat das Kind Probleme beim Lernen oder Hören, ist es wichtig, dass der Schulbegleiter daneben sitzt und die Aufgaben noch mal erklärt.

In der Klasse meines Sohnes gibt es noch einen anderen Schulbegleiter. Er hat uns schon oft aus der Patsche geholfen. Denn die bisherige Schulbegleiterin meines Sohnes war im vergangenen Jahr sehr oft verhindert. Mein Sohn ist bislang noch jeden Tag zur Schule gegangen, auch wenn seine Betreuerin krank oder verhindert war. Das ist weit mehr, als viele andere Eltern sagen können. Deren Kinder mit Handicap müssen in solchen Fällen nämlich zu Hause bleiben, wenn es keine Vertretungslösung gibt. Und so sammeln sich dann auf den Schulzeugnissen die Fehlstunden an, obwohl das Kind kerngesund ist. "Was soll die weiterführende Schule nur denken, auf der ich meine Tochter jetzt anmelde", sagt eine befreundete Mutter. "Die müssen ja glauben, dass es meinem Kind gesundheitlich sehr schlecht geht." Dabei ist die Schulpflicht eigentlich nur ausgesetzt, wenn sich das Kind ohne Betreuung selbst oder andere gefährdet.

Die Inklusion ist an den Regelschulen angekommen. Vieles funktioniert schon super. Es gibt fantastische Lehrer, die es sehr gut schaffen, auf die sehr unterschiedlichen Kenntnisse und Fähigkeiten der Kinder einzugehen. Es gibt engagierte Sonderpädagogen, die teils fest an einer Schule arbeiten. Andere, die für seltenere Handicaps ausgebildet sind, fahren von Schule zu Schule und arbeiten dort jeweils für einige Stunden mit den Kindern.

Wie bei jedem Systemwechsel gibt es aber bei der Inklusion Geburtswehen, die nur schwer auszuhalten sind. Ein gravierendes Problem betrifft die eingeschränkten Möglichkeiten beim Wechsel auf die weiterführende Schule. In Bonn gibt es für die Kinder, die im nächsten Schuljahr in die fünfte Klasse kommen, ein mehrstufiges System der Schulanmeldung für Kinder mit Handicap. In der ersten Stufe zählt der Wunsch der Eltern, auf welcher Schulform sie ihre Kinder anmelden möchten. Diese Schule können sie aber nicht frei wählen, sondern müssen die nehmen, die ihrem Wohnort am nächsten liegt. Insofern haben Familien nicht die Wahl zwischen den fünf Bonner Gesamtschulen, sondern nur eine Ja/Nein-Entscheidung.

Es gibt Listen, die die Bonner Stadtverwaltung erstellt hat, auf denen die Kinder stehen, die ein Schulrektor überhaupt nur für eine Bewerbung annehmen darf. In diesem Schuljahr war es zunächst auch nicht erwünscht, dass andere Kinder für ein Vorstellungsgespräch überhaupt zu einer Schule kommen, die nicht die dem Wohnort am nächsten gelegene ist. Fassungslose Eltern, die am Tag vor dem fest vereinbarten Vorstellungsgespräch von der Schule wieder ausgeladen wurden, sind die Folge. Es spielt offenbar zunächst auch keine Rolle, dass schon Geschwisterkinder auf der Schule sind.

Die überwiegende Mehrheit aller Eltern mit behinderten Kindern wollen derzeit, dass ihr Kind auf die Gesamtschule geht. Der schlichte Grund ist, dass es dort schon Erfahrung mit Inklusion gibt. Das führt dazu, dass Gesamtschulen weit mehr Anmeldungen bekommen, als sie Plätze zu vergeben haben. Gymnasien haben in Bonn bislang nur wenig Erfahrung mit Inklusion. Es ist ein schwer zu durchbrechender Teufelskreis, dass sich Eltern auch kaum trauen, Kinder auf einer Schule anzumelden, die noch über gar keine Erfahrung mit dem gemeinsamen Unterricht von behinderten und nichtbehinderten Kindern hat, obwohl ihre Kinder eigentlich eine Gymnasialempfehlung haben.

Problematisch wird es für die Kinder, die beim vorgezogenen Anmeldeverfahren an ihrer Wunschschule leer ausgehen. Dann kommt es darauf an, welche Schulform die Grundschule empfiehlt. Und die Familie kann dann sein Kind dort anmelden - und hoffen, dass es dort auch genommen wird. Sonst wird es in der dritten Stufe des Verfahrens einer Schule, die noch freie Plätze hat, zugewiesen - und das werden zu diesem Zeitpunkt im Schuljahr dann nicht die begehrten sein.

Wohl dem, der noch Zeit für eine solche Entscheidung hat. An den Grundschulen plagen Eltern andere Sorgen. Zum Beispiel die mit dem Mangel an Schulbegleitern. Es gibt Kinder in Bonn, die ohne Schulbegleiter zur Schule gehen müssen, obwohl die Notwendigkeit allseits bekannt ist. "Derzeit haben leider alle Anbieter von Schulbegleitung große Probleme mit der Erfüllung der vertraglich vereinbarten Leistungen, da es an Personal mangelt", heißt es unumwunden im Inklusionsbüro der Stadt Bonn.

Dass ein Schulbegleiter im Ausnahmefall ein zweites Kind mitbetreut, hilft oft nur für die Schulstunden weiter und nicht für die weiteren Stunden mit Mittagessen, Schulaufgaben- und Spielzeit. Dieses Modell, das Eltern unterstützen soll, ihrer Berufstätigkeit nachzugehen, heißt in Bonn Offene Ganztagsgrundschule (OGS). In den meisten Grundschulen können Eltern versuchen, für ihre Kinder einen Platz zu bekommen. Es ist ein sehr populäres Angebot. Doch in viele OGS darf ein Kind mit Handicap nur kommen, wenn die Schulbegleitung anwesend ist. Und deshalb steigt regelmäßig der Blutdruck, wenn um 6.50 Uhr eine SMS kommt. Spätestens dann ist man auf ein funktionierendes soziales Netz dringend angewiesen, damit Eltern ihren beruflichen Verpflichtungen nachkommen können.

Dass die Stadt Bonn einen Elternabend veranstaltet hat, um das komplizierte Verfahren für die weiterführenden Schulen zu erklären, wird bei Elterninitiativen gelobt, auch wenn die Form der Anmeldung kritisiert wird. Bonn sei überdurchschnittlich engagiert in Sachen Inklusion: "Im nördlichen Teil von NRW weiß man bislang kaum, wie Inklusion buchstabiert wird."

Gesuchte Kräfte

Wer in Bonn als Schulbegleitung arbeiten möchte, kann sich an einen der folgenden Träger wenden: Arbeitersamariterbund, Caritas, Diakonie, Elternverein Gemeinsam Leben - Gemeinsam Lernen und Lebenshilfe. Für die reguläre Schulbegleitung ist keine spezielle Ausbildung erforderlich. Teilweise arbeiten die Träger mit jungen Menschen im freiwilligen sozialen Jahr oder im Bundesfreiwilligendienst zusammen.

Knappe Kapazitäten an den Regelschulen in Bonn

Der Fachkräftemangel bei den Schulbegleitungen führt bei der Stadt Bonn zu erhöhter Aktivität: "Die Stadt arbeitet derzeit mit großem Hochdruck an einem Konzept, um das Problem zu lösen", teilte das Schulamt der Stadt Bonn mit. Auch in Köln sind die Kapazitäten knapp. Zwar habe jedes Kind, das eine Schulbegleitung braucht, auch eine bekommen, aber es sei im Einzelfall schwierig, sagt der stellvertretende Jugendamtsleiter Kölns, Klaus-Peter Völlmecke. An einer Schule probiere man in diesem Schuljahr eine sogenannte Poollösung aus, bei der eine gewisse Anzahl an Schulbegleitern an der Offenen Ganztagsschule angestellt werde, diese Schulbegleiter aber nicht direkt einem Kind zugeordnet würden. Dadurch hoffe man auf mehr Flexibilität im Vertretungsfall. Für eine Zwischenbilanz sei es zu früh.

Zurzeit sind dem Schulamt Bonn 159 Schülerinnen und Schüler mit festgestelltem sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf bekannt, die im kommenden Schuljahr auf eine weiterführende Haupt-, Real- und Gesamtschule oder ein Gymnasium wollen. Die Stadt erwartet, dass die Anmeldezahlen "die Kapazitäten der allgemeinen Schulen - insbesondere in den Gesamtschulen - übersteigt." Das Anmeldeverfahren richte sich nach den NRW-Vorgaben: "Wenn die Zahl der Anmeldungen die Kapazität der Schule zur Aufnahme von Schülern mit festgestelltem Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung übersteigt, haben die Kinder Vorrang, für die diese allgemeine Schule der gewünschten Schulform dem Wohnort am nächsten liegt." Die Schulleitung müsse aber die von Erziehungsberechtigten vorgetragenen Härtefälle prüfen.

Beim Anmeldeverfahren für die weiterführenden Schulen unterscheiden sich die Vorgehensweisen der Städte Köln und Bonn. In Köln erhalten die Familien den Hinweis auf die nächstgelegene Schule als Vorschlag, so das Kölner Schulamt. Soweit eine Schule durch die Anmeldungen nicht alle ihre Plätze im Gemeinsamen Lernen belegen könne, werde im Rahmen einer Konferenz geprüft, ob andere Kinder noch einen Platz benötigen. "Somit wird sichergestellt, dass jedes Kind einen Schulplatz im Gemeinsamen Lernen erhält, welches dies wünscht."

"Wir sind heilfroh, dass es jetzt einen Einstieg in den Rechtsanspruch auf Inklusion gibt", sagt Eva-Maria Thoms, Vorsitzende des Kölner Elternvereins "Mittendrin". Die Erfahrungen mit den Schulen seien unterschiedlich. Einige seien noch unsicher.

"Was uns bedrückt, ist die schlechte Stimmung in Sachen Inklusion", klagt Thoms. Es werde lediglich über das geredet, was Probleme mache und nicht über die Chancen, die im gemeinsamen Lernen liegen.

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