Corona-Krise Warum die Politik das Coronavirus nicht richtig eingeordnet hat

Berlin · Die Politik hat das Coronavirus anfangs nicht richtig eingeordnet. Schon im Jahr 2012 gab es aber ein Risikoszenario des Robert-Koch-Instituts.

 Die Corona-Pandemie hält die gesamte Welt in Atem.

Die Corona-Pandemie hält die gesamte Welt in Atem.

Foto: dpa/Claudio Furlan

Die Lektüre ist unheimlich. Es ist die Drucksache 17/12051 des Deutschen Bundestags, der Bericht zur Risikoanalyse im Bevölkerungsschutz. Das Robert-Koch-Institut und weitere Bundesbehörden haben die Gefahren und Maßnahmen zusammengetragen für ein außergewöhnliches Seuchengeschehen mit der Verbreitung eines neuartigen Virus. Es beginnt in Asien, wo der Erreger auf Märkten von Wildtieren auf Menschen überspringt – und die Gefahr erst Wochen später in ihrer Dimension erkannt wird. Da ist das Virus schon auf dem Weg und erreicht Deutschland.

Die Inkubationszeit beträgt drei bis fünf Tage, kann sich aber in einem Zeitraum von zwei bis 14 Tagen bewegen. Die Übertragung erfolgt hauptsächlich über Tröpfcheninfektion, aber auch Schmierinfektionen. Zu den Symptomen gehören Fieber, trockener Husten, Atemnot, Schüttelfrost, Kopfschmerzen. Kinder und Jugendliche überstehen die Infektion recht schnell während ältere Patienten schwer erkranken. Neben der Einhaltung von Hygienemaßnahmen und dem Tragen von Schutzausrüstung können nur noch scharfe Maßnahmen wie Isolierung und Quarantäne der Erkrankten und Ansteckungsverdächtigen getroffen werden. Schulschließungen, Absagen von Großveranstaltungen, Einschränkungen im Luftverkehr. Einen Impfstoff gibt es nicht. Wird er erst in drei Jahren gefunden, ist mit drei Erkrankungswellen zu rechnen.

Die Illustration ist eindrucksvoll gelungen

Das Gruselige an dieser Risikoanalyse ist: Sie stammt aus dem Jahr 2012, nicht 2020. Aber sie beschreibt Szenarien, die heute eingetroffen sind. Grundlage für die Analyse damals ist „der hypothetische, jedoch mit realistischen Eigenschaften versehene Erreger Modi-SARS“, der mit dem SARS-Coronavirus „in fast allen Eigenschaften identisch ist“.

Susanne Glasmacher, Sprecherin des Robert-Koch-Instituts und in diesen Tagen täglich mit dem Präsidenten der Bundesbehörde, Lothar Wieler, in live übertragenen Pressekonferenzen zu sehen, sagt auf Anfrage unserer Redaktion, die aktuelle Situation könne nicht mit der Schilderung 2012 verglichen werden: „Bei dem damaligen Szenario Modi-SARS handelte es sich nicht um eine Vorhersage der Entwicklung und der Auswirkungen eines pandemischen Geschehens, sondern um ein Maximalszenario ausgelöst durch einen fiktiven Erreger, um das theoretisch denkbare Schadensausmaß einer Mensch-zu-Mensch übertragbaren Erkrankung mit einem hochvirulenten Erreger zu illustrieren.“

Die Illustration ist eindrucksvoll gelungen und trifft auf die Maßnahmen zu, die die Bundesregierung aktuell mit Ländern und Kommunen beschlossen hat: Isolierung, Quarantäne, Verzicht nicht nur auf Großveranstaltungen. In dem damaligen Maximalszenario wurde allerdings eine Todesquote von zehn Prozent der Infizierten angenommen: „Für den gesamten zugrunde gelegten Zeitraum von drei Jahren ist mit mindestens 7,5 Millionen Toten als direkte Folge der Infektion zu rechnen.“ In Deutschland. Aufgrund der Überlastung der Mediziner und Pfleger sei eine angemessene Versorgung aller Patienten nicht möglich.

„Auch die meisten Experten haben das Virus unterschätzt“

Professor Wieler ist ein besonnener Mensch. Seine Stimme bleibt ruhig, auch wenn er Dramatisches vorträgt. Wie am Mittwoch. Wenn die Bevölkerung die von der Politik angeordneten Maßnahmen zur Reduzierung der sozialen Kontakte nicht umsetze, „ist es möglich, dass wir in zwei bis drei Monaten bis zu zehn Millionen Infizierte in Deutschland haben mit einer entsprechenden erheblichen Überlastung des Gesundheitswesens.“ Insofern ähneln sich die Beschreibungen von damals und heute wieder. Ganz wichtig aber: Die Zahl der Todesfälle liegt in Deutschland derzeit im Promillebereich.

Bei aller Beratung, die Politiker von Experten bekommen, und trotz der drastisch-anschaulichen Entwicklung am Ausgangsort China, überraschte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU) und langjährige Bundesministerin mit diesem Eingeständnis in der Sendung „Bild live“: „Ich glaube, wir alle, die wir nicht die Experten sind, haben am Anfang das Coronavirus unterschätzt.“ Kann das wirklich möglich sein?

Der FDP-Bundestagsabgeordnete Andrew Ullmann ist Politiker und Experte. Er ist Facharzt und Universitätsprofessor für Infektiologie in Würzburg. Er sagt: „Auch die meisten Experten haben das Virus und seine Dynamik anfangs unterschätzt. Auch ich dachte anfangs, wir könnten es mit regionalen Maßnahmen wie Kitaschließungen eindämmen.“

In der Risikoanalyse von 2012 steht noch etwas zur Eintrittswahrscheinlichkeit der Seuche: Einmal in 100 bis 1000 Jahren. Auch das trifft auf heute zu. Das Ausmaß hat es in der Geschichte der Bundesrepublik noch nicht gegeben.

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