Versorgungsengpässe bei Arzneimitteln Wenn die Medikamente ausgehen

Brüssel · Die deutsche Ärzteschaft warnt vor den Folgen der Arzneimittelknappheit und schlägt nun in Brüssel Alarm. Die Folgen für den Alltag von Ärzten und Patienten seien „erheblich“, warnen Experten.

 Arzneimittelherstellung in Bitterfeld: Versorgungsengpässe sind kein rein deutsches Problem mehr

Arzneimittelherstellung in Bitterfeld: Versorgungsengpässe sind kein rein deutsches Problem mehr

Foto: picture alliance/dpa/Hendrik Schmidt

Es geht um Venlafaxin, einen medizinischen Arzneistoff gegen Depressionen. Aber auch um Ritalin, diverse Antibiotika, Medikamente zur Krebsbehandlung, Schmerz- und Parkinson-Mittel. Rund 271 Präparate sind in Deutschland seit 2013 Mangelware geworden – das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte in Bonn führt darüber auf seiner Homepage Buch. Da die Meldungen der Produzenten freiwillig sind, dürfte die Dunkelziffer deutlich höher liegen.

Längst sind die Versorgungsengpässe kein rein deutsches Problem mehr. „Der Patient sind die Gesundheitssysteme der Mitgliedstaaten“, sagte der Präsident der Bundesärztekammer (BÄK), Klaus Reinhardt, am Donnerstag in Brüssel. Die BÄK und die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) schlagen schon seit langem Alarm – nun auch vor den Toren der EU-Kommission. Dabei ist das Problem bekannt. Sogar die EU hat in der Richtlinie über Humanarzneimittel schon 2001 festgeschrieben, dass die Hersteller für die „angemessene und kontinuierliche“ Versorgung mit Medikamenten verantwortlich sind. 2018 wurde daran noch einmal erinnert. Getan hat sich wenig bis gar nichts. „Größere Vorräte wären nur Teil einer Lösung“, sagte der Präsident des Weltärztebundes, Frank Ulrich Montgomery, in Brüssel. Aber er weiß auch: „Wenn Deutschland Arzneimittel hat, Malta aber nicht, geht das nicht.“

Die Folgen für den Alltag von Ärzten und Patienten seien „erheblich“, warnten Experten. Die Mediziner bräuchten mehr Zeit, um verunsicherte Kranke über Ersatzpräparate zu informieren und das Vertrauen in ein neues Mittel herzustellen. Man stelle sich die mit einer Umstellung verbundenen Ängste bei einer Chemotherapie vor, hieß es in Brüssel. Hinzu komme ein erheblicher Zusatzaufwand, weil bei neuen Medikamenten auch neue Bluttests nötig würden, um die Wirksamkeit sicherzustellen. Schließlich geht es um häufig um Arzneimittel bei schweren Erkrankungen. Peter Liese (CDU), Arzt und führender Gesundheitspolitiker in der christdemokratischen Europafraktion, drückte es so aus: „Wir reden hier nicht über Präparate, die man einnehmen kann oder nicht.“

Ursache liegt auch in der Globalisierung

Die Ursache für das Problem liegt zu einem nicht unerheblichen Teil in der Globalisierung. Viele Arzneimittel werden inzwischen vorwiegend in China und Indien produziert. Die dortige Nachfrage ist groß. Hinzu kommen Monopole der Branche, so dass bestimmte Medikamente nur noch an ein oder zwei Orten auf der Welt hergestellt werden. Die Abwanderung der Hersteller ist aber wohl auch das Ergebnis des wachsenden Kostendrucks. Beim Verband forschender Arzneimittelhersteller heißt es, die durchschnittliche Versorgung eines Patienten in Deutschland dürfe gerade mal 60 Cent am Tag kosten – dafür bekommt man noch nicht einmal einen Kaffee am Automaten.

Betroffen seien insbesondere Generika, die günstigen Alternativpräparate. „Deren Preise liegen inzwischen so niedrig, dass die Hersteller von Wirkstoffen, zum Teil auch von Arzneimitteln, nicht mehr genug Geld verdienen, um ihre Anlagen wirklich auf Topniveau zu halten“, sagen die forschenden Unternehmen. Die Versicherer wiederum lehnen dieses Argument ab und verweisen darauf, dass die Kosten für Medikamente immer weiter stiegen und kaum noch aus den Beiträgen gezahlt werden könnten. Tatsächlich kletterten die Medikamenten-Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung in Deutschland zwischen 1999 und 2018 von 19,2 auf 38,67 Milliarden Euro. Es gibt längst Rufe, die Versorgung nicht mehr nur wirtschaftlich zu betrachten, sondern Arzneimittel als öffentliches Gut staatlich zu regulieren.

Europäisches Meldesystem geplant

Bisher arbeiten EU und die nationalen Verbände an anderen Lösungen. Zum einen sollen „innovative Pharmafirmen mit Anreizen in der EU gehalten werden“, sagte am Andrzej Ryz von der EU-Generaldirektion Gesundheit. Zugleich wird an einem europäischen Meldesystem für Medikamenten-Engpässe gearbeitet, das die Hersteller künftig verpflichtet, bei absehbaren Engpässen oder Produktionsänderungen staatliche Stellen zu informieren. Dies solle zumindest für jene Präparate gelten, die auf einer „europäischen Liste versorgungsrelevanter Arzneimittel“ geführt werden, damit sich Ärzte, Apotheker und Krankenhäuser schneller auf bevorstehende Defizite bestimmter Mittel einstellen können. Auch von größeren Lagerbeständen ist weiter die Rede.

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