Interview mit Gregor Gysi „Wenn Le Pen gewinnt, ist die EU tot“

BONN · Im Interview mit dem General-Anzeiger spricht Gregor Gysi über die Krise in Europa, und die Notwendigkeit einer rot-rot-grünen Bundesregierung. Dabei kommt auch die Wahl des Bundespräsidenten zur Sprache.

Herr Gysi, wie ist aktuell Ihr Verhältnis zu Sahra Wagenknecht, Ihrer Parteifreundin und Nachfolgerin im Fraktionsvorsitz?

Gregor Gysi: Ach, das ist gar nicht so schlecht. Sie ist meine beste Nachfolgerin. Ich hab ja auch nur eine. Wir kriegen das schon hin.

Sie bezeichnen sich gern als bekanntester Hinterbänkler des Bundestages…

Gysi: Das stimmt doch auch, oder?

Wollen Sie wieder nach vorn…

Gysi: Nein, das täuscht. Gut, ich habe meinen Beitrag zu diesem täuschenden Eindruck geleistet. Aber das ist nicht meine Absicht. Ich genieße es, nicht mehr die Verantwortung zu tragen. Ich genieße es, mich viel freier äußern zu können, nicht überlegen zu müssen, wie gerade der letzte Beschluss der Fraktion gelautet hat. Aber natürlich suche ich eine Rolle. Meine Rolle.

Was hat sich geändert seit Ihrem Rücktritt vor einem Jahr?

Gysi: Ich bin entlastet, aber ich habe nicht mehr Zeit. Ich werde jetzt von Leuten eingeladen, von denen ich vorher nicht eingeladen wurde. Die anderen laden mich weiter ein. Alle denken, ich habe mehr Zeit, deshalb werde ich doppelt so viel eingeladen. Und schließlich bin ich ein grottenschlechter Neinsager. Aber meine Kinder sagen zur Veränderung: Ich höre besser zu.

Kandidieren Sie im kommenden Jahr erneut für den Bundestag?

Gysi: Das entscheide ich nach meinem Urlaub Ende September. Ich will meinen Nachfolgern einerseits nicht auf den Keks gehen, andererseits hänge ich an meinem Berliner Wahlkreis.

Sie haben Ihre Partei im derzeitigen Zustand als saft- und kraftlos bezeichnet…

Gysi: Etwas. Als etwas saft- und kraftlos. Es macht einen Unterschied zu sagen, jemand sei krank oder etwas krank. Das sollte die Partei aufrütteln.

Hat es das?

Gysi: Ich glaube ja. Ich habe erstaunlich viele zustimmende Briefe bekommen. Natürlich waren meine Parteivorsitzenden darüber nicht begeistert, kurz vor dem Parteitag. Aber das war nötig. Wir haben zum Beispiel die letzten Wahlniederlagen zu wenig ausgewertet. Jetzt ist wieder mehr Leidenschaft in der Partei und ich bin etwas optimistischer.

Würden Sie nicht ins Kissen beißen, wenn es nach der Wahl eine reale Chance für Rot-Rot-Grün gäbe und Sie wären Rentner?

Gysi: Na, Rentner wäre ich dann nicht. Und politisch wahrnehmbar bleibe ich in jedem Fall. Im Übrigen hab ich ja mehrere Berufe: Ich bin nicht nur Politiker, ich bin auch Rechtsanwalt, ich bin Autor und ich bin Moderator. Ich habe zum Beispiel die Zusage gegeben, meine Autobiografie zu schreiben. Das war wieder so eine Fehlleistung in meinem Leben. Denn daran schwitze ich jetzt wie verrückt.

Halten Sie Rot-Rot-Grün 2017 im Bund für eine realistische Option?

Gysi: Realistisch ist vielleicht übertrieben. Aber nicht so unrealistisch wie früher.

Wieso?

Gysi: Wegen der Rechtsentwicklung in diesem Land und weil die SPD merkt, dass sie anders weiter verliert. Das Problem der Linken ist, dass wir im Osten nicht mehr ausreichend als Protestpartei gelten und im Bund noch nicht als Gestaltungspartei. Das ist nicht gut.

Stiehlt Ihnen die AfD die Show ?

Gysi: Nicht die Show. Aber die AfD bringt den Frust gegen die gesamte etablierte Politik zum Ausdruck und wir gelten partiell auch schon als etabliert.

Wäre Rot-Rot-Grün in Ihren Augen also eine Antwort auf die AfD und auf die große Koalition?

Gysi: Ja und Ja. Das meine ich. Sonst hätte es auch keinen Sinn. Es muss dabei auch ein anderes Deutschland herauskommen. Wenn es das Deutschland bleibt, das wir jetzt haben, dann lohnt sich Rot-Rot-Grün nicht. Dann würde im Gegenteil der Politfrust noch größer.

Was ist am heutigen Deutschland so schlimm?

Gysi: Da gibt es mehrere Punkte, die mich ungeheuer stören, wobei ich weiß, dass es uns ökonomisch gut geht. Mich stört ungeheuer unsere völlige Abhängigkeit von den USA. In vielen Fragen, wo wir eigene und andere Interessen haben. Ich bin nicht anti-amerikanisch, aber es geht nicht, dass wir uns so gegen Russland in Stellung bringen lassen. Zum Beispiel mit den Sanktionen. Und jetzt spitzen wir das auch noch militärisch zu mit der Verlegung von Soldaten nach Polen und in die baltischen Republiken. Das gefällt mir alles nicht.

Was macht Ihnen noch Sorgen?

Gysi: Die tiefe Krise der EU. Sie ist das erste Mal in ihrer Geschichte wirklich gefährdet. Und nebenbei bemerkt: Russland hat nur ein sehr gemäßigtes Interesse, die EU zu retten. Wenn Großbritannien austritt, kann das eine Kettenreaktion auslösen – zum Beispiel in Polen und Ungarn. Und was, wenn sich dann Russland einschaltet?

Realer ist doch die Entwicklung in unserem Nachbarland Frankreich..

Gysi: Das ist das größte Problem. Wenn 2017 Marine Le Pen in Frankreich gewählt wird, dann gehen die raus aus der EU. Das ist nämlich ein wichtiger Unterschied zwischen Rechten und Linken: Die Rechten tun alles, was sie ankündigen. Die Linken machen davon nur die Hälfte. Und wenn Le Pen das macht, ist die EU tot. Mausetot. Dann ist auch der Euro tot. Wolfgang Schäuble denkt deshalb über ein Kerneuropa nach. Aber das geht auch nicht ohne Frankreich.

Gregor Gysi verteidigt die Europäische Union?

Gysi: Oh ja. Die EU ist unsozial, sie ist undemokratisch. Woher die Europäische Zentralbank ihre Macht nimmt, verstehe ich nicht. Ich verstehe den ganzen Frust auf die EU. Aber diese EU verhindert Kriege zwischen ihren Mitgliedsländern. Und diese Kriege haben die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts und die vorhergehenden Jahrhunderte geprägt. Ich will nicht dahin zurück. Ich könnte es fast garantieren: Spätestens zehn Jahre nach einem Ende der EU hätten wir wieder gewaltsame Konflikte in Europa.

Die Flüchtlingskrise ist erledigt?

Gysi: Nein, die kommt hinzu. Auch daran kann die EU scheitern, weil sie keine Lösung findet. Alle, die von Obergrenzen, Mauern und Zäunen sprechen, lösen kein einziges Problem. Sie sorgen nur für eine Pause. Die kann zwei, drei Jahre halten. Wenn so eine Pause ist, beschäftigt man sich nicht mehr mit den dahinter stehenden Problemen. Dann sammeln sich die Millionen vor den Mauern und eines Tages werden sie durchbrochen. Dann haben wir eine unbeherrschbare Situation.

Ihr Rezept?

Gysi: Man muss aufhören, über Mauern zu faseln, oder das schwächste Land des Euro, Griechenland, mit der Lösung zu beauftragen oder die völlig unzuverlässige Türkei. Man muss ernsthaft an die Ursachen herangehen. Ich meine die Kriegsursachen, aber auch die soziale Schere. Die 62 reichsten Männer der Welt besitzen genau so viel wie die untere Hälfte der Menschheit. Wenn die Reichen jetzt nicht gerechter verteilen, gefährden sie sich, ihre Kinder und ihre Enkelkinder. Millionen sterben jährlich an Hunger, obwohl wir die Welt zweimal ernähren könnten. Da läuft etwas sehr schief.

Was stört Sie, um zur Koalitionsfrage zurückzukommen, an Deutschland?

Gysi: Zunächst einmal etwas an Angela Merkel. Ihr größter Fehler in der EU war die Aufkündigung der Solidarität mit Griechenland. Denn damit war der Gedanke der Solidarität in der EU tot. Das sehen wir jetzt in der Flüchtlingsfrage. Und das Gehicke und Gehacke in dieser Frage hat die AfD stark gemacht.

Was macht Sie so optimistisch, dass Rot-Rot-Grün darauf die Antwort sein könnte?

Gysi: Weil wir eine alternative Politik machen müssten. Zum Beispiel, die Austeritätspolitik in der EU abschaffen. Dieser harte Kurs ist nicht die Lösung. Gilt übrigens auch im Inneren. Denken Sie an die ganze prekäre Beschäftigung, diese befristeten Arbeitsverhältnisse.

Und an die Altersarmut…

Gysi: Die macht mir große Sorgen. Wir brauchen ein neues System. Alle müssen in der nächsten Generation in die gesetzliche Rentenversicherung ohne Beitragsbemessungsgrenzen einzahlen. Dann reicht es auch.

Was wären – weitere – Essentials einer rot-rot-grünen Koalition?

Gysi: Eine Kriegsbeteiligung wie in Afghanistan darf nicht mehr machbar sein. Aber wir haben ja eine neue Entwicklung. Gerhard Schröder hat bei Irak nein gesagt, Merkel und Guido Westerwelle bei Libyen.

Mali?

Gysi: Sehr schwer zu bewerten. Der Kompromiss in all diesen Einsätzen könnte darin bestehen, dass bisherige Zusagen eingehalten werden, es aber keine neuen Kriegsbeteiligungen mehr geben wird. Denn wenn die Linke Ja zu einer Kriegsbeteiligung sagte, könnte sie gehen.

Rüstungsexporte?

Gysi: Wir sind für ein komplettes Verbot. Aber ich weiß, dass wir da Kompromisse machen müssen. Exporte in Krisengebiete und Diktaturen müssen aber zumindest aufhören. Das wäre ein gewaltiger Schritt, wenn Länder wie Saudi-Arabien oder Katar keine neuen Waffen mehr von uns bekämen.

Wäre ein gemeinsamer Bundespräsidentenkandidat von SPD, Grünen und Linken ein Signal für die Bundestagswahl?

Gysi: Ja. Das wäre ein Signal.

Warum sollten die Grünen dabei mitmachen?

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