Jugendliche Extremisten Wer nicht integriert ist, radikalisiert sich eher

Bonn · Mehr als die Hälfte aller Menschen, die sich weltweit auf der Flucht befinden, ist unter 18 Jahre alt. Als minderjähriger unbegleiteter Flüchtling wird in Deutschland jeder Jugendliche definiert, der ohne erwachsene Begleitung einreist.

Der Screenshot eines Internet-Videos, das vom IS-Sprachrohr Amak verbreitet wurde, zeigt den Beilattentäter.

Der Screenshot eines Internet-Videos, das vom IS-Sprachrohr Amak verbreitet wurde, zeigt den Beilattentäter.

Foto: dpa

Mehr als die Hälfte aller Menschen, die sich weltweit auf der Flucht befinden, ist unter 18 Jahre alt. Als minderjähriger unbegleiteter Flüchtling wird in Deutschland jeder Jugendliche definiert, der ohne erwachsene Begleitung einreist. Zum Stichtag 15. April waren nach Angaben des Familienministeriums kapp 60 000 unbegleitete Jugendliche in Jugendhilfemaßnahmen registriert – die Zahl hat sich seit Dezember 2014 verdreifacht. Die meisten – mehr als 90 Prozent – sind männlich, das Durchschnittsalter liegt bei etwa 16 Jahren.

Das Recht Minderjähriger auf besonderen Schutz leitet sich aus der UN-Kinderrechtskonvention und der EU-Aufnahmerichtlinie ab und garantiert auch explizit „Hilfe bei der Wahrnehmung der Rechte“. Zugleich schränkt aber das Asylbewerberleistungsgesetz die Rechte auf Unterhalt und Versorgung ein.

Längst nicht jeder Jugendliche, der einreist, stellt auch einen Asylantrag, was nicht nur mit den Erfolgsaussichten zu tun hat, sondern damit, wie den Flüchtenden bei der Wahrnehmung ihrer Rechte geholfen wird. Im vergangenen Jahr kam jeder Dritte derer, die Asyl beantragten, aus Afghanistan. Die zweite große Gruppe, 28 Prozent, reiste aus Syrien ein. Eine Gruppe, die in der Asylstatistik nicht auftaucht, aber existiert, ist die der Jugendlichen aus Marokko. Sie erreichen lediglich den Status einer Duldung.

Die Jugendlichen werden rechtlich gesehen in Obhut genommen, landen in einer Erstaufnahmeeinrichtung und durchlaufen ein sogenanntes Clearingverfahren. Hier wird das Alter festgestellt, geklärt, welche psychologische Unterstützung sie benötigen, ob es einen Familienangehörigen im In- oder Ausland gibt und wo sie bis zur Volljährigkeit leben können – bei Verwandten, in betreuten Wohngruppen oder bei Pflegefamilien. Jeder Jugendliche hat einen Vormund, dem auch das Asylverfahren obliegt. Die Jugendamtsmitarbeiter sind in der Regel überlastet und überschreiten oft die gesetzlich erlaubte Zahl von 50 Mündeln pro Vormund deutlich.

Die Jugendlichen haben eine Lebensgeschichte von Krieg, Terror und existenzieller Bedrohung hinter sich. Viele von ihnen haben im Herkunftsland oder auf der Flucht Gewalt erlebt, waren Schleppern ausgesetzt oder saßen allein unter Fremden auf Flüchtlingsbooten.

Fachleute schätzen, dass mindestens jeder Dritte therapiebedürftig ist. Sozialarbeiter und Helfer verweisen darauf, dass gerade bei Jugendlichen sehr gute Integrationschancen bestehen, weil sie sich grundsätzlich leichter tun, sich in einer neuen Gesellschaft einzufinden, zumal wenn sie intensiver betreut werden. Die Betreuung ist aber vielerorts suboptimal – und zugleich kämpfen die Jugendlichen, einmal angekommen, oft sehr mit ihrer Situation. Zu den schlimmen Erfahrungen kommt die gefühlte Verantwortung für ihre Familien – nicht wenige werden vorgeschickt, um den Familiennachzug zu ermöglichen.

Dazu kommt eine zermürbende Alltagswirklichkeit ohne klare Perspektive: In Berlin beispielsweise dauert es bis zum Erstgespräch teilweise Monate. Die Hilfsorganisationen schlugen Anfang des Jahres Alarm, weil viele Jugendliche wochenlang alleine in Hostels mitten in der Millionenstadt lebten – geplagt von Heimweh und Frustration, von Erinnerungen und Orientierungslosigkeit.

Wer keine Schulpflicht mehr hat, dem fehlt häufig eine Tagesstruktur. Dazu kommt der Schock, sich in einem ganz anderen Kulturkreis zu befinden. Junge Flüchtlinge sind, wie jede nicht integrierte Gruppe, gefährdet, sich zu radikalisieren. Der Verfassungsschutz warnte bereits zu Beginn des Jahres davor, dass salafistische Gruppen gezielt auf junge Flüchtlinge zugehen, um sie für sich zu gewinnen. Bei einer mangelhaften Betreuung können sie dann in diese Lücke stoßen.

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