Abschied nach vier Amtszeiten Wie Angela Merkel die deutsche Politik geprägt hat
Berlin · Mit einem spektakulären Schritt hat Kanzlerin Angela Merkel am Montag ihren Rückzug aus der Politik eingeleitet. Sie zog die Reißleine, weil ihre erneute Kandidatur als Parteichefin in Frage stand – und nötigte damit auch ihren Kritikern Respekt ab.
Zeitenwende. Angela Merkel, diese Frau der Superlative, leitet ihren Rückzug aus der Politik ein. Ein spektakulärer und in dieser Art einmaliger Schritt in der deutschen Politik. Denn die 64-Jährige gibt den Parteivorsitz der CDU ab und setzt sich zugleich selbst ein Ende als Kanzlerin: 2021. Spätestens. Dann verlässt sie auch den Bundestag und steht ebenso wenig für Ämter auf internationaler Ebene zur Verfügung, für die sie von der EU-Gipfelchefin bis zur UN-Generalsekretärin gehandelt wurde. Aus und vorbei. Vielleicht auch schon früher, wenn die große Koalition an der jetzt einsetzenden Dynamik zerbricht. Eine fünfte Kandidatur Merkels um das Kanzleramt wird es nicht geben. Der Wechsel ist jetzt klar.
Auf internationaler Ebene half sie, die größten Krisen zu lösen
Ein Teil der Bürger wird aufatmen, der andere Teil sorgenvoll in die Zukunft blicken. Was kommt nach dieser ungewöhnlich unprätentiösen, klugen, nüchternen, aber zuletzt auch polarisierenden Naturwissenschaftlerin? Nach dieser Christdemokratin, die auch SPD-Chefin hätte sein können, die dem rechten Flügel der eigenen Partei zu grün und wegen ihrer Flüchtlingspolitik zum Hassobjekt der AfD geworden ist. Nach dieser Politikerin, die auf internationaler Bühne die größten Krisen zu lösen geholfen hat: die Euro-, Schulden-, Griechenlandkrise. Und den Ukraine-Konflikt, für den sie um die halbe Welt reiste, um mit Frankreich, Russland und der Ukraine die Gefahr eines Krieges abzuwenden, um Europa zu stabilisieren – und das immer mit den USA an der Seite. Viele Jahre wurde sie als mächtigste Frau der Welt bezeichnet, geschätzt, verehrt und gefürchtet.
Bei allen Fehlentscheidungen der Regierungen unter Merkel in den vergangenen 13 Jahren hat das Land an politischer Stabilität, wirtschaftlicher Stärke und mit der Willkommenskultur 2015 sogar die Herzen vieler Menschen gewonnen. In der Flüchtlingskrise gab Merkel ihr sonst legendäres Zaudern auf und ging voran. Entschlossen, mutig und zunehmend einsam. Sie hat dem Land, ihrer Partei und sich selbst viel abverlangt. Eines ihrer großen Verdienste ist und bleibt dabei: Dass Deutschland trotz seiner Nazi-Vergangenheit in den Augen von Holocaust-Überlebenden mit dem Entschluss, vor dem Bürgerkrieg flüchtende Syrer unbürokratisch aufzunehmen, humanitäre Größe gezeigt hat. So sehr Merkel mit ihrem Satz „Wir schaffen das“ die Gesellschaft gespalten hat, so sehr hatte sie damit Recht.
Häufung von Fehleinschätzungen
Deutschland schafft das. Auch das. Ruth Klüger, die als Kind Auschwitz überlebt hat, nannte es 2016 eine heroische Tat. Ihre Anerkennung galt Merkel persönlich. Vielleicht wird es noch ein paar Jahre dauern, bis diese Leistung im eigenen Land mehr gewürdigt wird.
Merkel erinnert oft eher an eine Präsidentin, die um die Breite der Bevölkerung bemüht ist. Vermittelnd, abwägend, nicht immer im Einklang mit ihrer Partei. Dies zuletzt immer weniger. Womöglich gehört das zu einer so langen Führungsverantwortung dazu, dass am Ende einer verdienstvollen Karriere das Gespür nachlässt für die Stimmung in der Bevölkerung und in der eigenen Partei, für Sehnsüchte und Aufbruch.
In den vergangenen Wochen häuften sich Merkels Fehleinschätzungen. Sie hatte nicht kommen sehen, wie schwach der Rückhalt für ihren Vertrauten Volker Kauder an der Spitze der Unionsfraktion geworden ist, sodass die überraschende Kandidatur seines Stellvertreters Ralph Brinkhaus für eine Abwahl reichte. Sie hatte nicht erkannt, dass die geplante Beförderung des umstrittenen Verfassungsschutzpräsidenten Hans-Georg Maaßen zum Staatssekretär den Bürgern nicht zu vermitteln ist. Sie hat zu spät in der Diesel-Affäre die daran noch verdienenden Auto-Konzerne zur Verantwortung gerufen.
Die Reißleine gezogen
Merkel macht nun das, was sie einst als „größten Fehler“ ihres Vorgängers im Kanzleramt, Gerhard Schröder, bezeichnet hat: Sie gibt den Parteivorsitz aus der Hand, um Kanzlerin zu bleiben. Es ist die Ämtertrennung, die sie immer als Gefahr für die eigene Macht empfunden und strikt abgelehnt hat. Der Unterschied ist aber: Sie begrenzt selbst ihre Kanzlerschaft. Ob das hilft, ist offen. Dass sie jetzt sagt, sie habe schon im Sommer, also nach dem erneuten zerstörerischen Streit mit CSU-Chef Horst Seehofer über die Flüchtlingspolitik, die Entscheidung zum Verzicht auf den Vorsitz getroffen, klingt wenig überzeugend. Dann hätte sie sich auch gemeinsam mit dem 69-jährigen Kauder mutig hinter Brinkhaus stellen und der Partei ein Signal geben können, dass jetzt eine neue Generation in der Führung kommt.
Vielleicht gehört es aber auch zum Selbstschutz dazu. Denn Merkel wollte immer selbstbestimmt aus dem Amt scheiden. Weil ihre erneute Kandidatur als CDU-Chefin in Frage stand, hat sie jetzt die Reißleine gezogen. Auf den allerletzten Drücker. Dabei wirkte sie in der CDU-Vorstandssitzung am Montag in sich ruhend, sogar befreit, erzählen Teilnehmer. Auch ihren Widersachern nötigt sie damit Respekt ab. Sie hat sich nicht aus dem Amt wählen lassen. Sie hat den Weg freigemacht. Die CDU solle nun die von ihr eröffneten neuen Spielräume nutzen, mahnt sie. Erstmals seit Merkels Amtsantritt vor mehr als 18 Jahren hat die Partei jetzt die Chance, mit der bereits angekündigten Kampfkandidatur von CDU-Generalsekretärin Annegret Kramp-Karrenbauer und Gesundheitsminister Jens Spahn über ihre künftige Ausrichtung zu entscheiden: Eher Mitte-Links oder Mitte-Rechts.
Als Regierungschefin den Riss in der Gesellschaft kitten
Merkel betont, dass sie die Verantwortung für die Verluste der CDU bei den jüngsten Wahlen übernehme. „Wir müssen innehalten“, sagt sie und zählt auf: gescheiterte Jamaika-Sondierungen, eine quälend lange Regierungsbildung, Verwerfungen in Union und Koalition. „Das Bild, das die Regierung abgibt, ist inakzeptabel.“ Fast dachte man, sie wirft auch als Kanzlerin hin. Aber sie hat noch ein großes Ziel. Losgelöst von der CDU-Führung will sie als Regierungschefin den Riss in der Gesellschaft wieder kitten. „Ich wurde nicht als Kanzlerin geboren“, sagt die Pfarrerstochter aus der DDR. Und doch bleibt nach ihrer denkwürdigen Pressekonferenz am Montag in der CDU-Zentrale dieser Eindruck zurück: Das Kanzleramt war und ist Merkels Erfüllung. „Mit Leidenschaft und Hingabe“, wie sie sagt. Und was macht sie danach? Merkel: „Ich habe keine Sorge, dass mir nichts einfällt.“ Nach ihrer Kanzlerschaft ist sie frei.