Interview mit Politikexperte Wie geht es mit der Politik in Deutschland weiter?

BONN · Vieles deutet in Berlin auf eine neue große Koalition hin, aber die Ungewissheit über die Zukunft der Regierung ist groß, sagt Politikexperte Frank Decker im GA-Interview.

 Schwierige Parteienkonstellation im neuen Bundestag: Noch nie war es so schwierig, eine neue Bundesregierung zu bilden.

Schwierige Parteienkonstellation im neuen Bundestag: Noch nie war es so schwierig, eine neue Bundesregierung zu bilden.

Foto: dpa

Die politische Landschaft in Deutschland ist in Bewegung. Der Bonner Politikwissenschaftler Prof. Dr. Frank Decker analysiert im Gespräch mit Helge Matthiesen, Kai Pfundt und Nils Rüdel, wie es im kommenden Jahr weitergeht.

Wir haben im Bundestag zwei extreme Flügelparteien und die Mitte kann sich nicht auf eine neue Regierung einigen: Sind das Weimarer Verhältnisse?

Frank Decker: Das sind noch keine Weimarer Verhältnisse, denn in der Weimarer Republik hatten wir am Ende eine Mehrheit der beiden Flügelparteien KPD und NSDAP. Aber wir haben seit 2005 eine auffällige Entwicklung. Damals lag die PDS um die fünf Prozent. Linke und AfD haben heute zusammen 22 Prozent. Damit verengen sich die Koalitionsmöglichkeiten, denn die Stärke der beiden Randparteien geht auf Kosten der Volksparteien. Die sind gezwungen, Koalitionen über die Lagergrenzen hinweg zu schließen. Das ist eine Zäsur im deutschen Parteiensystem.

Ist die Demokratie in Deutschland dadurch instabiler geworden?

Decker: Ich denke schon, denn große Koalitionen und Koalitionen der Mitte sind viel schwieriger geworden. In einigen Ländern reicht es selbst für die klassische große Koalition aus Union und SPD nicht mehr. Das liegt auch an der Stärke der Union. Obwohl CDU und CSU nur noch mit Parteien aus dem anderen Lager mehrheitsfähig sind, behalten sie einen deutlichen Vorsprung vor der SPD und damit die strategische Mehrheitsfähigkeit. Insofern ist die Möglichkeit des Wechsels, von dem die Demokratie lebt, eingeschränkt.

Spielen die Lagergrenzen für die Wähler noch eine große Rolle?

Decker: Wie groß der Graben bleibt, hat das Scheitern der Jamaika-Koalition gezeigt. Das hat sicher auch damit zu tun, dass das Verhältnis von FDP und Union nicht mehr das ist, was es mal war. Am Ende gaben aber doch die starken inhaltlichen Unterschiede den Ausschlag.

Es war also nicht das taktische Kalkül der FDP, die Sache scheitern zu lassen?

Decker: Die FDP hatte offenbar eine Regierungsbeteiligung nach der Bundestagswahl nicht eingeplant. Sie ist schon in Nordrhein-Westfalen überrascht worden, als es für eine schwarz-gelbe Mehrheit reichte. Die FDP wäre in der Koalition mit Union und Grünen zu vielen unerwünschten Kompromissen gezwungen gewesen, von daher erscheint mir ihr Rückzug plausibel. Außerdem ist eine Regierungsbildung mit unerprobtem Personal schwierig. Offenbar konnte man mit den Grünen nicht auf Augenhöhe verhandeln.

Aber stößt die FDP damit nicht ihre traditionelle Wählerschaft vor den Kopf? Die verlangt doch von ihrer Partei, dass auch regiert wird, wenn es möglich ist.

Decker: Was aus Wählersicht überwiegt, ist schwer zu beurteilen. Es gibt sicherlich einen erheblichen Teil, der das nicht gut findet. Man hätte zum Beispiel Steuersenkungen beim Soli erreichen können. Die wird es jetzt nicht geben. Dennoch könnte die FDP profitieren, wenn jetzt erneut eine große Koalition gebildet wird.

Jamaika ist gescheitert. Glauben Sie dass diese Konstellation jetzt auf längere Zeit erledigt ist?

Decker: Natürlich kann in vier Jahren oder vielleicht schon vorher wieder über eine solche Möglichkeit neu nachgedacht werden. Die FDP wird dann in einer anderen Situation sein. Sie hat dann die notwendige parlamentarische Praxis. Es könnten sich auch andere Mehrheitskonstellationen ergeben – wenn sich das Kräfteverhältnis zwischen Union und SPD zugunsten der Sozialdemokraten verschiebt zum Beispiel.

Müssen sich die beiden großen Parteien zu den Rändern orientieren und die Randparteien zu sich herüberziehen?

Decker: Das wäre das Modell einer Lagerbildung, die ich positiver sehe als die Koalition in der Mitte. Die SPD hat in den Ländern Bündnisse mit der Linken geschlossen – allerdings noch nicht im Westen. Auf der Rechten sehe ich diese Entwicklung nicht, auch weil sich die AfD weiter radikalisiert. Da ist kein Ende absehbar. Solange es diese starken extremistischen Kräfte gibt, wird es diese Möglichkeit einer Zusammenarbeit für die Union nicht geben. Damit bleibt es vorerst bei den Koalitionen der Mitte.

Wie stehen denn die Randparteien zu Regierungsbeteiligungen?

Decker: AfD und Linke haben noch ein zusätzliches Problem: Sie müssen als Protestparteien ihre Außenseiterpositionen kultivieren, um wahrgenommen zu werden. Regierungsbeteiligungen werden von ihren Wählern nur selten goutiert. Daher ist das Interesse, in Regierungen zu gehen, gar nicht so groß.

Frau Merkel hat in all diesen Verhandlungen deutlich an Macht eingebüßt. Sie hat aktuell auch keine Mehrheit im Parlament. Erleben wir gerade eine Merkel-Dämmerung?

Decker: Sie hat selbst gesagt, dass sie mit der neuerlichen Kandidatur gerungen hat. Das ist ein Zeichen von Schwäche. Frau Merkel ist zudem keine gute Koalitionspolitikerin. Sie ist 2005 gezwungenermaßen in die Große Koalition gegangen und hat der SPD dafür viel Macht eingeräumt. Auch die FDP hat sie als Partner nicht besonders gepflegt. Merkel hat mitgeholfen, dass die Liberalen 2013 unter Wasser gedrückt worden sind – im kompletten Unterschied zu Helmut Kohl übrigens, der vier Perioden mit der FDP regiert hat und der Partei immer Raum ließ, ihre eigene Identität zu wahren. Auch bei den Jamaika-Verhandlungen ließ Merkel es an Geschick vermissen.

Wie könnte das Szenario ihres Amtsendes aussehen?

Decker: Ein Wechsel im Amt ist nur innerhalb einer Legislaturperiode denkbar, um einem Nachfolger die Chance zu geben, sich zu profilieren und einen Amtsbonus zu entwickeln.

Wer kommt nach Merkel?

Decker: Schwierig zu sagen, es gibt keinen geborenen Nachfolger.

Ist es ein Versäumnis, keine Talente aufgebaut zu haben?

Decker: Frau Merkel hat ja noch die Chance, die erste Kanzlerin zu sein, die freiwillig geht. Allen ihren Vorgängern ist das nicht gelungen. Sie müsste das in der Mitte der Legislaturperiode machen. Ob eine neue Regierung vier Jahre durchhält, ist nicht ausgemacht. Die SPD wäre sicher schlecht beraten, eine Koalition von vorne herein zu befristen, aber wenn Umfragen das aussichtsreich erscheinen lassen, ist ein vorzeitiges Platzen der Koalition denkbar.

Die CDU steht noch relativ gut da – aber Sie sagen, das muss nicht so bleiben. Wackelt das gesamte Konzept der Volkspartei?

Decker: Die Volksparteien stehen sicherlich in Frage. Man kann bei der CDU und auch bei der CSU noch von Volkspartei sprechen, bei der SPD würde ich da schon ein Fragezeichen machen. Die Wählerunterstützung geht zurück und bei den Mitgliedern verlieren die beiden großen Parteien durch die demografische Entwicklung bis 2040 nochmals rund die Hälfte, wenn es nicht zu einer Eintrittswelle kommt. Dieser Niedergang ist programmiert, im Osten früher als im Westen. Wir müssen uns dauerhaft auf eine Vielparteien-Struktur mit vielfältigen Koalitionsoptionen einstellen.

Im kommenden Jahr steht die Landtagswahl in Bayern an. Glauben Sie, dass die CSU ihre absolute Mehrheit verteidigen kann?

Decker: Ich halte das für eher unwahrscheinlich. Die AfD hatte in Bayern ihr bestes Ergebnis in einem westlichen Bundesland. Natürlich werden die Erfolgsthemen der Rechtspopulisten – Migration und Integration – weiter eine Rolle spielen. Die CSU täte gut daran, sich von der Position zu verabschieden, es sei eine Katastrophe, wenn sie keine absolute Mehrheit hat. Sie behält in Bayern die Möglichkeit, im bürgerlichen Lager oder mit der SPD eine Koalition zu bilden.

Die SPD ist bei der Bundestagswahl unter die Räder gekommen. Welche Fehler hat sie gemacht?

Decker: Das lässt sich nicht auf einen Faktor herunterbrechen. Die Personalie Martin Schulz ist sicherlich viel zu spät auf den Weg gebracht worden. Das ging einher mit dem Fehlen einer dazu passenden Aufstellung und Strategie im Willy-Brandt-Haus. Dass Schulz nach seiner Nominierung trotz zweier Landtagswahlkämpfe in der medialen Versenkung verschwand, zeigt deutlich, dass man keinen Plan hatte. Bestimmte Themen wurden nicht besetzt. Europa zum Beispiel hat die SPD im Wahlkampf völlig verschenkt. Hinzu kam die Wiederholung von 2009 und 2013: Die SPD hatte keine Machtoption.

Übersteht Martin Schulz den anstehenden Kurswechsel der Partei?

Decker: Der Eintritt in die große Koalition könnte für Schulz von Vorteil sein, weil potenzielle Rivalen mit hochkarätigen Ämtern versorgt werden können. Das gilt vor allem für Sigmar Gabriel, aber auch für Heiko Maas. Es bleibt das Problem der SPD, dass sie kein strategisches Zentrum hat und ihre Führungsleute nicht an einem Strang ziehen. Schulz ist kein sonderlich starker Parteiführer.

Wie kommt die SPD zurück ins Gleis oder droht ihr das Schicksal der französischen Sozialisten?

Decker: Die Partei muss sich neu aufstellen, was in der Opposition sicherlich leichter wäre als in der Regierung. Dennoch ist sie in keiner so schlechten Ausgangslage. Trotz ihrer nur 20 Prozent bei der Bundestagswahl kann die SPD die Union in einer möglichen großen Koalition zu schmerzlichen Kompromissen zwingen, die für diese zur Belastung werden könnten. Hinzu kommt, dass sich die Frage der Nachfolge von Frau Merkel stellt. Wenn die SPD ihre Regierungsbeteiligung klug angeht und wenn sie eine überzeugende personelle Alternative zur Union aufbietet, kann sich das Blatt durchaus wieder wenden.

Was sind denn die Themen, die die SPD besetzen muss, um aus der Krise zu kommen?

Decker: Ob es die sozialen Themen sein werden, scheint noch nicht ganz klar zu sein, zumal es in Deutschland wirtschaftlich gut läuft. Ich glaube aber schon, dass ein erheblicher Teil der Bevölkerung nicht fair an der Wohlstandsentwicklung beteiligt ist. Das ist die Klientel, die die SPD adressieren muss. Dabei bleibt die Gratwanderung, die anderen Teile ihrer Wählerschaft im linksliberal eingestellten Bürgertum nicht mit überzogenen Umverteilungsvorstellungen zu verprellen.

Und das Thema Flüchtlinge und Integration?

Decker: Das ist für die SPD ebenso wenig ein Gewinnerthema wie für die Unionsparteien.

Dennoch spielt es eine riesengroße Rolle. Muss es offensiver diskutiert werden?

Decker: Wir brauchen diese Debatte natürlich. Wenn wir das Thema wegschieben, dann nutzt das der AfD. Die Fragen, die durch die Rechtspopulisten aufgeworfen werden, sind ja berechtigt. Die Debatte um eine realistische Flüchtlingspolitik hat inzwischen alle Parteien eingeholt – selbst die Grünen. Aber die Antworten der anderen Parteien müssen sich von denen der AfD unterscheiden.

Die AfD rückt jetzt in viele Gremien ein und hat eine Menge Geld zur Verfügung. Wird das die Republik grundlegend verändern?

Decker: Die AfD wird sobald nicht verschwinden, die Frage wird sein, in welcher Größenordnung sie sich etabliert. Als fundamentaloppositionelle Kraft behält sie genügend Chancen mit Themen wie der nationalen Identität im Zeitalter der Globalisierung. Allein das Thema Zuwanderung wird ihr viele Gelegenheiten bieten. Hinzu kommt die Veränderung in unserem Mediensystem. Die sozialen Medien geben der AfD die Möglichkeit, ihre Klientel direkt zu adressieren.

Führen die innerparteilichen Streitereien nicht vielleicht zum Zerbrechen der Partei?

Decker: Die Wähler wählen eine Partei wie die AfD nicht, weil sie glauben, dass sie bessere Problemlösungen hat. Ihre Stimme ist ein Unmutsvotum. Wie es im Inneren der AfD zugeht, ist für die Wähler eher zweitrangig.

Sind die Grünen eigentlich gegen all diese Veränderungen besser geschützt als die anderen Parteien?

Decker: Die Traditionswählerschaft der Grünen ergraut. Auf der anderen Seite schneidet die Partei bei den jüngeren Wählergruppen immer noch überdurchschnittlich gut ab. Die Partei behält in der Opposition gute Chancen. Sie muss aber den Generationenwechsel an der Spitze hinkriegen, den sie bisher verschleppt hat. Im Kern sind die Grünen immer noch eine linke Partei und werden es bleiben.

Wird die Linkspartei irgendwann im Bund regierungsfähig sein?

Decker: Da bin ich weiter skeptisch. Um regierungsfähig zu werden, müsste sie ihre Positionen in der Außen- und Sicherheitspolitik ändern. Der notdürftig haltende Burgfrieden in der Partei würde dann vermutlich brechen. Außerdem würde die Linke Wähler verlieren, die sie gerade wegen dieser Alleinstellungsmerkmale unterstützen. Zudem hat die Partei immense strukturelle Probleme durch ihre Überalterung und den fehlenden Nachwuchs.

Aber sie verliert Wähler auch nach ganz rechts.

Decker: Ihre Wählerschaft tickt bei weitem nicht so liberal wie die Partei selbst – gerade im Osten. Das wird weiter für Konflikte sorgen. Im Westen hat die Partei bei der Bundestagswahl aber zugelegt. Hier müsste sie vor allem ihr Verhältnis zur SPD verbessern, was unwahrscheinlich ist, wenn diese auf Bundesebene in der Regierung verbleibt. Bis 2021 wird sich also vermutlich nichts ändern. Rot-rot-grün liegt in jeder Hinsicht in weiter Ferne.

Wann wählen wir den nächsten Bundestag?

Decker: Was 2021 sein wird, kann niemand sagen. Was die jetzt anstehende Regierungsbildung angeht: Eine Minderheitsregierung sehe ich nicht, wir bekommen wohl eine neue große Koalition. Was danach kommt? Die vergangenen vier Jahre haben gezeigt, wie Ereignisse alles verändern können. Bis Mitte 2015 lagen die demoskopischen Werte aller Parteien wie eingefroren fest. Und dann kam alles ins Rutschen.

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