Interview mit Präses Manfred Rekowski „Wir könnten sicher mehr Flüchtlinge aufnehmen“

Bonn · Der rheinische Präses Manfred Rekowski spricht über Ursachen und mögliche Lösungen des Migrationsproblems, die Integrationsfähigkeit der Gesellschaft und das Grundrecht auf Asyl.

 Der Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland, Manfred Rekowski.

Der Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland, Manfred Rekowski.

Foto: picture alliance / Thomas Frey/d

Herr Präses, werden Sie zusammen mit der katholischen Kirche die Flüchtlingsfrage im Bundestagswahlkampf thematisieren?

Manfred Rekowski: Beide großen Kirchen thematisieren seit jeher Migration und Menschenwürde, Flucht und Integration, ganz unabhängig davon, ob gerade politische Wahlen stattfinden oder nicht. Mit der neuen EKD-Broschüre „… und ihr habt mich aufgenommen. Zehn Überzeugungen zu Flucht und Integration aus evangelischer Perspektive“ versuchen wir, gerade in Zeiten des Wahlkampfes mit den Menschen über die Themen sachlich ins Gespräch zu kommen. Denn die Versuchung zu polarisieren, ist in Wahlkampfzeiten groß.

Wie viele Flüchtlinge kann Europa und insbesondere Deutschland aufnehmen?

Rekowski: Das kann man nicht in Zahlen festmachen. Insgesamt gesehen könnten sicher mehr Flüchtlinge aufgenommen werden. Die Integrationsfähigkeit unserer Gesellschaft ist groß. Aber sie muss letztlich auch getragen sein von der Bevölkerung. Als Kirche sind wir auch da mit den Menschen im Gespräch, damit die Bereitschaft, Menschen Zuflucht zu gewähren, wächst.

Aber brauchen wir nicht auch ein funktionierendes europäisches Aufnahmesystem?

Rekowski: In der Tat. Die meisten Flüchtlinge, rund 40 Millionen, kommen gar nicht erst nach Europa, sondern fliehen innerhalb des eigenen Landes oder in Anrainerstaaten wie Libanon, Jordanien, Äthiopien, Pakistan, Türkei. Oft vergessen wir, dass neun von zehn Flüchtlingen in Entwicklungsländern wohnen. Das vergessen wir zu oft, weil wir nur über uns nachdenken. Die Völkergemeinschaft muss sich ihrer Verantwortung für die Bekämpfung des Weltproblems Flucht stellen.

Im Gegensatz zur CDU-Vorsitzenden Angela Merkel spricht sich die CSU für eine jährliche Obergrenze von 200 000 Flüchtlingen bei der Aufnahme aus. Ist eine solche Obergrenze eine Lösung des Problems für Deutschland?

Rekowski: Nächstenliebe kennt keine Obergrenzen. Dies scheint mir auch rechtlich gesehen gar nicht möglich. Wir sollten stattdessen auf ein gerechtes Verteilsystem innerhalb Europas setzen, welches auch auf die Bedürfnisse der Flüchtlinge eingeht. Vermeintlich einfache Lösungen wie eine Obergrenze sind populistisch und lösen das Problem nicht. Wie gesagt: Differenzierte Lösungen sind gefragt und das schließt auch wirksame Hilfen für die Menschen ein, die in Nachbarstaaten geflohen sind und dort in äußerst schwierigen Verhältnissen leben müssen.

Welche Anstrengungen muss Europa unternehmen, um die wirtschaftliche Situation in Afrika nachhaltig zu verbessern? Was halten Sie in diesem Zusammenhang von einem Marshallplan mit Afrika, den Entwicklungshilfeminister Gerd Müller (CSU) vorgelegt hat?

Rekowski: Ich kann dem einiges abgewinnen. Schon weil der Begriff andeutet, dass es sich hier um Entwicklungsprozesse in Afrika handelt, die nicht so nebenbei erledigt werden können. Es geht um eine richtige Kraftanstrengung des Engagements der Europäer in Afrika. Das schließt ein – und das ist der wohl noch schwierigere Teil – dass wir mehr Gerechtigkeit in den Wirtschaftsbeziehungen mit Afrika umsetzen. Gegenwärtig profitieren wir von der Armut Afrikas.

Immer mehr Politiker fordern, die europäischen Grenzen etwa mit Hilfe von Schiffen dicht zu machen …

Rekowski: … auch hier gilt: Nächstenliebe kennt keine Grenzen. Deshalb Nein. Abschottung und Ausgrenzung sind weder aus humanitärer noch aus menschenrechtlicher Sicht eine Lösung. Dies führt allenfalls dazu, dass sich Fluchtrouten weiter verlagern, die Flucht für Menschen noch gefährlicher und teurer wird und mehr Menschen zu Tode kommen. Die Abschottung bringt Europa in Konflikt mit ihren eigenen Prinzipien.

In der Europäischen Union gilt das Grundrecht auf Asyl.

Rekowski: Eben. Doch legale Wege, Asyl zu beantragen, gibt es praktisch nicht mehr. Und für die Sicherung ihrer Grenzen verlässt sich die EU durchaus auch auf politisch zweifelhafte Partner. Alle Erfahrung zeigt: Menschen, die keine Perspektive haben und auf der Flucht sind, werden sich nicht aufhalten lassen.

Und was ist die Lösung?

Rekowski: Es gilt einerseits Fluchtalternativen etwa durch Umsiedlungen oder humanitäre Aufnahmeprogramme, flexiblere Visa-Richtlinien und Möglichkeiten der Familienzusammenführung zu schaffen. Und es bleibt andererseits der politische Dauerauftrag, Fluchtursachen zu bekämpfen. Dies ist die einzige Möglichkeit, an der Situation etwas grundlegend zu verändern.

Was tun kirchliche Hilfswerke wie etwa „Brot für die Welt“, um Menschen in Afrika und Asien von einer Flucht abzuhalten, indem sie Arbeitsplätze vor Ort schaffen?

Rekowski: „Brot für die Welt“ unterstützt die Arbeit und Projekte von Partnerorganisationen weltweit, um Menschen in ihren Heimatländern ein Leben in Würde zu ermöglichen. Hilfswerke setzen sich für gute Lebensbedingungen ein, sodass Menschen nicht fliehen müssen. Das ist die Zielrichtung unseres Handelns. Neben der Unterstützung von Organisationen vor Ort versuchen „Brot für die Welt“ und andere kirchliche Werke durch Lobby-, Öffentlichkeits- und Bildungsarbeit in Deutschland und Europa politische Entscheidungen im Sinne der Armen zu beeinflussen und ein Bewusstsein für die Notwendigkeit einer nachhaltigen Lebens- und Wirtschaftsweise zu schaffen.

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