GA-INTERVIEW "Wir müssen uns noch auf einiges gefasst machen"

Der Terrorismus-Experte Peter Neumann glaubt, dass der Islamische Staat Jahrzehnte aktiv bleibt. Aggressive Eindämmung sei nötig.

 Sprach mit IS-Kämpfern und kennt die internen Abläufe der Terrorgruppe: Peter Neumann forscht in London.

Sprach mit IS-Kämpfern und kennt die internen Abläufe der Terrorgruppe: Peter Neumann forscht in London.

Foto: EPA

Er studiert die Datensätze von Hunderten IS-Kämpfern, kennt ihre Rekrutierungswege, weiß, was sie antreibt: Peter Neumann ist einer der weltweit profiliertesten Terrorexperten. Jasmin Fischer sprach mit ihm über die jüngsten Anschläge.

Würden Sie in diesen Tagen ein Fußballspiel oder einen Weihnachtsmarkt besuchen?

Peter Neumann: Ja, natürlich! Auch wenn die Ereignisse sich zurzeit überschlagen, ist die statistische Wahrscheinlichkeit, bei einem Terroranschlag zu sterben, vernachlässigbar. Viel mehr Menschen sterben bei Autounfällen, und trotzdem haben wir doch alle kein Problem damit, Auto zu fahren. Es wäre schade, wenn wir aus Angst vor dem Terror unser Leben grundsätzlich ändern würden, aufhören würden, es zu genießen.

Sie warnen davor, dass Islamisten Anschläge in Europa verüben könnten. Hat der Schwarze Freitag in Paris Sie da noch überrascht?

Neumann: Es war seit zwei, drei Jahren klar, dass sich da was zusammenbraut. Dass der IS aber bereits zu diesem Zeitpunkt über Netzwerke verfügt, um komplexe Anschläge in Europa zentral aus Syrien zu steuern, hat mich schon überrascht. Das hätte ich erst später erwartet. Auch die Sicherheitsbehörden haben nicht rechtzeitig erkannt, dass da mindestens 15 Menschen über Monate intensiv kommuniziert und die Anschläge von Paris geplant haben. Wir haben ein grundsätzliches Problem: Die Zahlen von zurückgekehrten IS-Kämpfern, von Unterstützern, Gefährdern, Mitläufern steigt sprunghaft. Man bräuchte 20 Beamte, um nur einen von ihnen rund um die Uhr zu überwachen. Das ist bei Hunderten Zielpersonen fast unmöglich, ganz besonders für kleine Länder wie Belgien. Die dschihadistische Welle überfordert die Beamten. Also wägen die Sicherheitsdienste ab, wen sie beobachten. So passieren Fehler.

Sie vertreten die These, dass Terrorismus sich in Wellen entwickelt, uns jeweils eine Generation begleitet und dann in sich zusammenfällt. Wie lange wird sich die jetzige Bedrohung halten?

Neumann: Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass Terrorwellen sich im Schnitt 30 Jahre halten. Das Gute ist: Jede Bewegung hört auch wieder auf. Derzeit sehen wir eine Wiederholung der letzten Terrorwelle, die von El-Kaida dominiert wurde. Für El-Kaida wurde in den Achtzigern, mit der Besetzung Afghanistans durch die Sowjetunion, die Grundlage geschaffen; in den Neunzigern und 2000er-Jahren sahen wir dann die Konsequenzen in Form von Terror-Anschlägen, heute fällt El-Kaida allmählich auseinander. Was wir jetzt beobachten, ist der Beginn der nächsten Terrorwelle, die in Teilen der El-Kaida-Generation ähnelt: Es gibt Konflikte - diesmal in Syrien und im Irak -, zu denen wieder Auslandskämpfer anreisen, wieder etablieren sie Terror-Netzwerke, wieder tragen sie den Terror nach ihrer Heimkehr mit sich. Wir werden das Vermächtnis dieser neuen Generation selbst dann noch zu spüren bekommen, wenn der Syrien-Konflikt beigelegt ist. Es wäre also falsch zu glauben, dass der Terror endet, wenn morgen in Syrien Frieden ausbricht.

Was ist das Neue an der IS-Terrorgeneration?

Neumann: Was die derzeitige Welle von allem Dagewesenen unterscheidet, sind zwei Punkte. Erstens: Sie ist viel größer. Die UN gehen derzeit von 30 000 Auslandskämpfern aus, das sind mehr, als sich in Afghanistan in den gesamten Achtziger Jahren getummelt haben. Zweitens: Diese Welle ist ideologisiert. In den Achtzigern ging es radikalisierten Kämpfern primär darum, die Sowjetunion zu bekämpfen. Der Islamische Staat aber ist eine große Vision, ein politisches Projekt.

... und der einzig erfolgreich expandierende "Staat" im Herzen des Nahen Ostens. Er verübt nicht nur brutale Anschläge, sondern hat, wie Sie in Ihrem neuen Buch beschreiben, auch das bürokratische Kleinklein im Auge ...

Neumann: Das ist die Ironie des Islamischen Staates: Er tut so, als würde er jeden Staatsgeist ablehnen, versucht aber, sich durch den Aufbau bürokratischer Strukturen als Staat zu legitimieren. Da gibt es Spesenquittungen, Rechenschaftsberichte, Social-Media-Preise für junge Leute, Lieferscheine - all das, was Sie in einer deutschen Stadtverwaltung auch finden würden. Der IS zieht eben nicht nur ehemalige irakische Offiziere, sondern auch Beamte an.

So paradox es klingt: Ist der Islamische Staat, der Leid und Chaos stiftet, vielerorts so populär, weil er im aus den Fugen geratenen Nahen Osten Ordnung verspricht?

Neumann: Das Management der Barbarei ist eine wichtige philosophische Grundlage des IS. Die Vordenker glauben, dass eine Phase der Gewalt und Schreckenstaten geradezu Voraussetzung ist für die neue Ordnung. Wo der Islamische Staat schließlich die Herrschaft übernimmt, etabliert er als Erstes Scharia-Gerichte. Die Urteile mögen harsch sein, aber die Gerichte kommen bei den Menschen vor Ort gut an. Nach Jahren der Willkür gibt es endlich Ordnung. Schwelende Streitereien werden gelöst. Und wer vom Scharia-Gericht Recht bekommen hat, hat freilich auch ein Interesse am Fortbestand des Islamischen Staates.

Warum konnte der Arabische Frühling diese neue Generation des Terrors nicht neutralisieren?

Neumann: Weil der Arabische Frühling den Dschihadisten in die Hände spielt. Wenn die Gesellschaften sich nach und nach öffnen, haben auch Islamisten die Möglichkeit, sich in den Ländern einzunisten und zu organisieren. Früher wäre ein solches Vorgehen als Aufbegehren eingestuft und im Keim erstickt worden.

Wie kann der IS bekämpft werden?

Neumann: Die Strategie der aggressiven Eindämmung, die derzeit in vom IS eroberten Gebieten gefahren wird, funktioniert sehr gut. In seinem Kerngebiet gerät der IS nämlich massiv unter Druck, in Syrien und im Irak verliert er viel Territorium. Aber diese Strategie erfordert etwas, was mancher seit den Paris-Anschlägen nicht aufbringen mag: Geduld.

Der IS gilt als reichste Terrorgruppe der Welt. Sicher fallen ihm trotz ver Eindämmung neue Wege ein.

Neumann: Man muss verstehen, dass der IS eine Beute-Ökonomie betreibt. Er plündert Ölquellen, macht Raubgut zu Geld. Das heißt: Sobald seine Ausdehnung gestoppt wird, versiegen diese Einnahmequellen. Er produziert nichts, betreibt keinen Handel. Alles, was ihm also bleibt, ist das Eintreiben von Steuern in besetzten Gebieten - aber ohne Handel und Produktion gibt es bald nichts mehr, was er besteuern könnte. Mittlerweile ist auch die Ölproduktion zusammengebrochen: Angestellte fliehen, Raffinerien fehlen Ersatzteile. Um die Finanzen des IS steht es längst nicht mehr so rosig.

Erleben wir den Beginn eines 30-jährigen Krieges oder der Reformation der arabischen Welt?

Neumann: Ich glaube, es ist wie der Erste Weltkrieg und wir befinden uns im Jahr 1916. So wie alte europäische Imperien zusammengebrochen sind, wird auch das Staatensystem des Nahen Ostens in der Form nicht überleben. Für eine Rückkehr zu den Diktatoren und Grenzen des Jahres 2010 ist es zu spät. Kein Experte wird sagen können, wie dieser Transformationsprozess mit seinen vielen Variablen ausgehen wird - so wie 1916 niemand hätte vorhersagen können, wie die europäische Nachkriegsordnung aussieht. Sicher ist nur: Das alles wird eine Weile dauern und wir müssen uns noch auf einiges gefasst machen.

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