Interview mit dem Politologen Frank Decker „Wir schaffen Präzedenzfälle“

Bonn · Der Bonner Politologe Frank Decker warnt vor einem zu langen Stillstand in Deutschland – und vor einer drohenden Wiederholung im Herbst. Zu den Auswirkungen für die Politik meint er: Kurzfristig gewännen CDU/CSU und SPD Ansehen zurück.

 Frank Decker im GA-Interview.

Frank Decker im GA-Interview.

Foto: Benjamin Westhoff

Sind Sie als wissenschaftlicher Beobachter des Politikbetriebs überrascht, wie schnell das politische System der Bundesrepublik Deutschland derzeit auf die Virus-Krise reagiert?

Frank Decker: Wir hatten 2008 einen Präzedenzfall mit der Finanz- und Wirtschaftskrise. Auch damals war der Staat in kurzer Zeit in der Lage, einen totalen Zusammenbruch des Finanzwesens und der Realwirtschaft zu verhindern.

Bilden die politikwissenschaftlichen Theorien eigentlich noch die aktuelle Entwicklung ab oder wird es da künftig Anpassungen brauchen?

Decker: Auch unsere Theorien beschäftigen sich fast ausschließlich mit dem Normalfall des Regierens. Demokratien zeichnen sich durch eine gewisse Langsamkeit ihrer Entscheidungsprozesse aus. Dinge werden beraten. Dafür braucht man Zeit. Die steht in Notsituationen aber nicht zur Verfügung. Insofern werden jetzt demokratische und rechtsstaatliche Prinzipien zurückgedrängt. Auch die Bundesrepublik hat eine Notstandsverfassung, die allerdings bislang nur für den Verteidigungsfall gilt. Man könnte darüber nachdenken, ob man die nicht in Zukunft auf solche Fälle ausweitet.

Befinden wir uns im Notstand?

Decker: Ja, wir befinden uns de facto im Ausnahmezustand. Der zwingt uns, bis hart an die Grenzen des demokratischen Rechtsstaates zu gehen. Das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit hat im Moment absoluten Vorrang. Dahinter müssen andere Grundrechte zurücktreten.

Wo liegen die Grenzen des Rechtsstaats?

Decker: Die Maßnahmen müssen geeignet und angemessen sein, um das erwünschte Ziel zu erreichen, sprich die Zahl der Infektionen zu begrenzen. Das spielt in der Frage von Ausgangssperren eine wichtige Rolle. Man muss dabei auch Nebenwirkungen bedenken. Denken Sie an die mögliche Zunahme häuslicher Gewalt.

Wie lange kann man das öffentliche Leben Ihrer Meinung nach lahmlegen, bevor unsere freiheitliche Grundordnung Schaden nimmt?

Decker: Ich bin skeptisch, ob man diese rigiden Maßnahmen über mehrere Monate durchhalten kann. Wir müssen hoffen, dass es bei ein bis zwei Monaten bleibt. Danach muss auch aus ökonomischen Gründen das öffentliche Leben wieder hochgefahren werden. Das Problem wird sein, dass im Winter eine zweite Infektionswelle droht.

In den letzten Wochen wurde wiederholt kritisiert, dass der Föderalismus Entscheidungen verlangsame. Wie sehen Sie das?

Decker: Bei der Regelung der Ausgangsbeschränkungen hat der Föderalismus kein gutes Bild abgegeben. Das lag vielleicht auch an der Nervosität bestimmter Akteure. In der Union mag im Hintergrund zudem die Machtfrage eine Rolle spielen. Grundsätzlich haben wir mit unserer föderalen Struktur eher Vorteile: Umsetzen müssen die Entscheidungen schließlich die Verwaltungen vor Ort. Da ist es gut, dass Länder und Kommunen eigene Handlungsspielräume besitzen.

Die Versammlungsfreiheit wurde faktisch außer Kraft gesetzt. Manche Stimmen möchten Desinformation zum Virus unter Strafe stellen und damit die Meinungsfreiheit einschränken. Alles sicher in guter Absicht. Aber könnte das nicht auch als Blaupause für andere Situationen dienen?

Decker: Das wird uns beschäftigen. Wenn jetzt Bundeskompetenzen gestärkt werden oder die Mobilität Infizierter verfolgt werden soll, schaffen wir Präzedenzfälle. Die wird man vermutlich nicht zurücknehmen. Vor Desinformationen habe ich weniger Angst. Die traditionellen Medien erfahren aktuell so viel Zuspruch wie lange nicht mehr.

Man hört erstaunlich wenig von der AfD zur aktuellen Pandemie. Können rechte Strömungen von der Pandemie profitieren oder verlieren sie aktuell an Bedeutung, weil ihnen politische Gestaltungsmacht fehlt?

Decker: Die Regierungsparteien profitieren in dieser Krise und gewinnen Ansehen zurück. Die Opposition von den Grünen bis zur AfD hat das Nachsehen. Eine andere Frage ist, wie sich die Kräfteverhältnisse sortieren, wenn später die Lehren aus der Krise gezogen werden. Wir werden sehr viele Debatten bekommen um die Sozialpolitik, das Gesundheitssystem, die Digitalisierung und die ökonomischen Folgen. Dann könnte die AfD, die für den starken Staat eintritt, durchaus profitieren. Aber es könnten auch linke Parteien sein, wenn diese auf soziale Ungerechtigkeiten bei der Bekämpfung der Krise hinweisen.

Und wie steht es um Europa? Spielt die EU in der Krise als eigenständiger Akteur eine erkennbare Rolle? Oder ist sie doch nur ein Schönwetterbündnis?

Decker: Die Europäische Zentralbank flankiert die nationale Fiskalpolitik. Auf der anderen Seite ziehen die Staaten sich stark auf das Nationale zurück. Jeder ist sich selbst der nächste. Da ist Europa im wahrsten Sinne an die Grenzen gestoßen. Es ist eine tragische Situation, dass wir uns nicht gegenseitig aushelfen können, weil jeder die Krankenhausbetten für sich braucht. Auch hier müsste künftig europaweit besser Vorsorge getroffen werden. Im Moment bekommen die Italiener die meiste Hilfe von den Chinesen.

Sie haben jüngst an der Uni Bonn eine Ringvorlesung zur Zukunft der Demokratie kuratiert. Derzeit scheinen autoritäre Systeme wie China bessere Antworten auf die Krise zu bieten. Verliert die westliche Form der repräsentativen Demokratie an Strahlkraft?

Decker: Das wäre eine sehr pessimistische Prognose. Zur raschen Ausbreitung der Seuche in China hat die dort fehlende Meinungs- und Pressefreiheit mit beigetragen. Auch der Ursprung des Virus liegt in China, nämlich dem dortigen Handel mit Wildtieren. Würde die Regierung in Peking den in Zukunft stoppen, wäre das ein Dienst an der gesamten Menschheit.

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