Gastbeitrag zu 25 Jahre Hauptstadtbeschluss Wolfgang Clement: Ein „New Deal“ für Bonn

BONN · Der frühere nordrhein-westfälische Ministerpräsident Wolfgang Clement sagt: Es bringt nichts, die Augen vor den Fakten zu verschließen. Bonn und Berlin müssen zu einer „neuen Verständigung“ finden. Wie sie aussehen kann, lesen Sie hier.

I.

Fünfundzwanzig Jahre nach der Entscheidung des Bundestags vom 20. Juni 1991, seinen Sitz in Berlin zu nehmen, haben sich viele damit verbundene Befürchtungen, die auch ich damals hatte, nicht bewahrheitet. Die Bundesrepublik Deutschland ist heute sicher anders als vor 25 Jahren, sie ist aber nicht zu einem zentralistischen Land geworden. Sie leidet eher an den Schwächen der föderalen Gliedstaaten, namentlich im Bildungsbereich. Derweil haben die Stadt Bonn und die Region an Einwohnern und zugleich an Wirtschaftskraft gewonnen und bieten heute mehr Arbeitsplätze denn je.

Das ist nicht per se geschehen. Dafür haben viele hart gearbeitet und es sind immer neue Anstrengungen notwendig. In der Region Bonn kann man sich an den guten Erfahrungen mit dem Ausgleichsvertrag orientieren: Der Erfolg der Region hängt davon ab, dass alle zur Zusammenarbeit bereit und in der Lage sind, weil sie die eigenen Interessen nicht ohne regionale Abstimmung und Zusammenarbeit verwirklichen können.

Das ist ein Anliegen, das meines Erachtens alle politisch und gesellschaftlich Verantwortlichen allerorten ernst nehmen müssen. Allgemeine Erklärungen reichen dazu nicht. Notwendig sind praktische Antworten auf allen wichtigen Feldern, vom Wohnungsbau und den Gewerbeflächen bis zur Verkehrsinfrastruktur, von den kulturellen Angeboten bis zum gemeinsamen internationalen Auftritt. Und das gilt umso mehr, als die Zukunft in der kommunalen Welt von morgen jenen Kräften gehören dürfte, die in Dimensionen von Metropolregionen zu denken und zu handeln bereit sind.

II.

Der Erfolg der vergangenen 25 Jahre hat auch damit zu tun, dass das Thema „Bonn/Berlin“ hier wie dort kaum zu kleinlicher parteipolitischer Profilierung benutzt worden ist. Trotz aller unterschiedlicher Sichtweisen und Interessen haben sich die politisch Verantwortlichen in Bonn und der Region immer zusammengerauft. Das sollte auch in Zukunft so sein bei einem Thema, das seit Jahren stets für Aufsehen, aber auch schon fast ritualisierte Debatten sorgt, nämlich: bei der Zahl der Arbeitsplätze in den Bonner Ministerien.

Ende des letzten Jahres waren etwa 10 500, also 61 Prozent der Arbeitsplätze der Bundesministerien in Berlin und etwa 6700, also 39 Prozent in Bonn. Das steht in deutlichem Widerspruch zur Aussage des „Berlin/Bonn-Gesetzes“ vom 26. April 1994, „dass insgesamt der größte Teil der Arbeitsplätze der Bundesministerien in der Bundesstadt erhalten bleibt.“ Die Bundesregierung rechtfertigt diese Entwicklung mit dem Hinweis, dass es sich im Gesetz um eine „Soll“-Bestimmung handle. Doch das war damals anders gedacht. Ja, die politisch gewollte Arbeitsteilung zwischen Berlin und Bonn – auch ein Beitrag zur föderalen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland – hat sich anders entwickelt als damals beabsichtigt und vorhersehbar war.

Aber es bringt nichts, die Augen vor den Fakten zu verschließen und immer wieder fast zwanghaft die Einhaltung eines Gesetzes einzufordern, das die Bundesregierung anders auslegt. Das gilt erst recht, weil alle Verantwortlichen wissen, dass sie keine Möglichkeit haben, die Bundesregierung zu zwingen, ihr Verhalten zu ändern. Das ist seit langem durch Rechtsgutachten bestätigt.

Deshalb ist die Zeit gekommen, die Phase ritualisierter Kritik zu überwinden. Es nützt niemandem in Bonn und in der Region, die Bundesregierung ohne jede Aussicht auf ein positives Urteil von Zeit zu Zeit auf die Anklagebank zu setzen. So ist die nun schon seit Jahren in Gang befindliche Rutschpartie gen Berlin jedenfalls nicht aufzuhalten.

Wer die Interessen Bonns und der Region erfolgreich vertreten will, der muss die Wirklichkeit so sehen, wie sie ist. So ist es bei den Verhandlungen über den Ausgleichsvertrag zu Anfang der Neunziger Jahre geschehen, und man kann nur allen heute Verantwortlichen raten, die Probleme im gleichen Geiste anzupacken.

III.

So spricht viel dafür, dass der Bund, die Länder NRW und Rheinland-Pfalz und die Region Bonn auf der Grundlage des Berlin/Bonn-Gesetzes alsbald zusammenfinden und im Lichte der Erfahrungen der vergangenen 25 Jahre zu einer neuen Verständigung kommen. Dabei geht es natürlich auch um berechtigte lokale und regionale Interessen, um konkret betroffene Beschäftigte und ihre Arbeitsplätze.

Es geht aber auch um mehr: Die künftigen Aufgaben der Bundesstadt und deutschen UNO-Stadt Bonn müssen so organisiert werden, dass der größtmögliche Nutzen für Politik und Verwaltung auf der Bundesebene dabei herauskommt. Das setzt auf allen Seiten die Bereitschaft zu neuem Denken voraus. Weder das inzwischen halbjährliche Nachzählen von Arbeitsplätzen in den in Bonn verbliebenen Ministerien noch das Festhalten an den gegebenen Organisationsstrukturen aller Bundesministerien sind der Weisheit letzter Schluss. Veränderungen sind angesagt. Sie könnten in etwa so aussehen:

Das vor einigen Jahren gegründete Bundesamt für Justizist ein gelungenes Beispiel dafür, wie eine durchaus angebrachte Reform der öffentlichen Verwaltung des Bundes Hand in Hand gehen kann mit den Interessen der Region Bonn. Wenn andere Bundesministerien den gleichen oder einen ähnlichen Weg gingen, dann wäre dies ein Beitrag dazu, die Bundesverwaltung leistungsfähiger und es ihr leichter zu machen, sich auf veränderte Bedingungen und Herausforderungen zu konzentrieren. Um es auf den Punkt zu bringen: Die Bundesministerien haben im Laufe der Jahre immer wieder neue Aufgaben bekommen und bestehende erweitert, ohne je systematisch zu überprüfen, ob es sich tatsächlich um ministerielle Aufgaben handelt und welche Organisationsformen sie am besten bearbeiten können. Die Möglichkeiten der Digitalisierung sollten endlich Anlass geben, die ministeriellen Aufgaben zu definieren und auch die Art und Weise ihrer Wahrnehmung neu zu bestimmen.

Als deutsche UN-Stadt mit inzwischen mehr als tausend Mitarbeitern in wichtigen Einrichtungen der Vereinten Nationen wird und muss Bonn weiter nicht nur Stadt der Bundesverwaltung, sondern auch der Bundespolitik sein. Wie kann und soll sich dieser UNO-Standort weiter entwickeln? Was geschieht, um diesen Prozess zu fördern? Wie hat man sich vor diesem Hintergrund die politische Präsenz der Bundesregierung in Bonn künftig vorzustellen? Auch dazu sind Ideen gefragt. Der von Bundesministerin Hendricks für Herbst angekündigte Bericht sollte dazu Vorschläge oder mindestens erste Überlegungen enthalten.

Für die Bundesministerien, deren Aufgaben einen engen Zusammenhang mit den Einrichtungen der Vereinten Nationen in Bonn und ihren Kernaufgaben Umwelt, Nachhaltigkeit und Entwicklung haben, sollte an offiziellen Dienstsitzen der je zuständigen Minister festgehalten werden. Das ist schon heute ein politisches Signal, unabhängig von der Zahl der Tage, die Kabinettsmitglieder in Bonn arbeiten. Es sollte keine Frage sein, dass alles dafür spricht, diese Struktur beizubehalten.

Im Blick auf die enge Verzahnung von Landes- und Bundeskompetenzen – mit Vorrang für die Landesseite – gilt Gleiches für Bildung, Wissenschaft und Forschung. Auch sie sollten einen offiziellen Dienstsitz in Bonn behalten. Es gibt kein politisches Feld, auf dem die Kooperationsfähigkeit von Bund und Ländern so sehr gefordert ist wie gerade auf dem von Bildung und Forschung. Das spricht für eine entsprechend akzentuierte, geradezu herausgehobene Rolle dieses dem Föderalismus verpflichteten Ministeriums aus den allgemeinen Strukturen des Bundeskabinetts.

Das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft hat sehr viel mehr mit Brüssel als mit Berlin zu tun. Kein anderes Feld der Politik ist so europäisiert wie dieses. Keines ist zugleich für die UNO-Themen Umwelt und Nachhaltigkeit relevanter. Auch dies sollte in einem offiziellen Dienstsitz am deutschen UNO-Standort Bonn seinen Ausdruck finden.

In einem Vierteljahrhundert hat die politische Wirklichkeit auch das Thema Bonn/Berlin verändert. Die Zahlen der hier wie dort in den Ministerien Beschäftigen trügen nicht, sie spiegeln das wider. Deshalb gilt es nun auch aus Bonner Sicht, daraus selbstbewusst und auf eigene Initiative die richtigen Schlussfolgerungen zu ziehen. Die Zeit ist reif.

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