Nach Rückzug von Gregor Gysi Zwischen Pragmatismus und der reinen Lehre
BERLIN · Kein Wort - nicht eines. Ausführlich hält Gregor Gysi am Sonntag bei seiner Abschiedsrede auf dem Bielefelder Parteitag der Linken Rückschau. Bei zahlreichen Weggefährten bedankt er sich.
Für viele Mitstreiter hat er ein gutes Wort. Bei Dietmar Bartsch bedenkt er sich warmherzig gleich mehrere Male. Für Sahra Wagenknecht hat er nur Schweigen.
Obwohl man auch der Meinung sein könnte, die ganze Rede sei irgendwie an sie gerichtet, an sie und ihresgleichen in der Partei. Also an den fundamentalistischen Teil der Linken, der weit mehr ist als nur ein Flügel, und dem politische Kompromisse gleichbedeutend sind mit Verrat und daher die Übernahme von Regierungsverantwortung die Aufgabe linker Ideale.
Gysi hat immer anders argumentiert, auch in Bielefeld. Und wenn die Linke auch nur wenig durchsetzen könnte in einem Regierungsbündnis, mehr Steuergerechtigkeit - wie er sie begreift - zum Beispiel, oder ein Ende aller Auslandseinsätze der Bundeswehr, dann hätte sich das Regieren doch schon gelohnt. So sieht es Gysi. Bartsch sieht es auch so.
Sahra Wagenknecht sieht es anders. Schon am Parteitagssamstag polemisierte sie, in zutreffender Erwartung der Gysi-Positionen vom kommenden Tag, über die "trübe Brühe" der SPD, über terroristische Kriege Amerikas und die "ukrainischen Nazis". Die Basis hat sie dafür gefeiert.
Nun hat Wagenknecht die Chance, in die vorderste Reihe zu rücken. Gysis Erbe soll geteilt werden. Künftig soll es zwei Fraktionschefs geben. Bartsch gilt als eindeutiger Favorit der Reformer. Wagenknecht wäre der geborene Widerpart. Verhindern kann sie ihren Aufstieg nur noch selbst. Genau dafür hat sie allerdings schon gründliche Vorarbeit geleistet. Sie hatte in einer persönlichen Erklärung ihre erstaunten Fraktionskollegen im März dieses Jahres darüber informiert, "dass ich nicht für die Funktion einer Fraktionsvorsitzenden kandidieren werde".
Sie hielt es für einen ungeheuren "strategischen Fehler", dass die Fraktion im Bundestag zustimmte, als es um die Verlängerung des Hilfsprogramms an Griechenland ging. Damit nämlich unterstütze die Fraktion indirekt die "katastrophale Politik der Auflagen und Kürzungsdiktate". Sie sei zur Erkenntnis gelangt, "dass ich politisch letztlich mehr bewege, wenn ich mich auf das konzentriere, was ich am besten kann".
Inzwischen scheinen ihr neue Erkenntnisse zugeflogen zu sein, denn sie hat verlauten lassen, dass sie neu nachdenke. Dazu hat sie bis Montag Zeit. Dann soll der geschäftsführende Fraktionsvorstand die Vorentscheidung treffen. Vorschlagsrecht hat die Parteispitze. Parteichef Bernd Riexinger hat gestern klargemacht, dass er das Duo Wagenknecht und Bartsch für die logische Lösung hält.
Dietmar Bartsch hat sich bislang auch noch nicht in die Karten blicken lassen. Allerdings zweifelt in der Partei niemand daran, dass er den Posten gern übernehmen würde. Auch seine Gegner erkennen an, dass der 57-Jährige die handwerkliche Seite des Jobs perfekt beherrschen würde. Als ehemaliger Bundesgeschäftsführer und Wahlkampfleiter hat er gelernt, wie Politik zu organisieren ist. 2012 hatte er bereits nach dem Parteivorsitz gegriffen, scheiterte damals aber am linkeren Bernd Riexinger. Bartsch ist ein linker Pragmatiker, der wenig übrig hat für das Beharren auf alten Dogmen und nostalgisch verbrämten Halsstarrigkeiten.
Als einige Fraktionsmitglieder der Linken einmal allen Ernstes eine Schweigeminute für die Mauertoten boykottiert hatten, legte er den Verteidigern des Mauerbaus schlicht den Austritt aus der Partei nahe. Das zeigt symbolisch, wo er steht. Und wo nicht. Sicher nicht bei den Sympathisanten des Wagenknecht-Kurses.
Dass dann aber eine ganz neue linke Zeitrechnung anbricht, muss niemand befürchten. Es sähe Gysi nun gar nicht ähnlich, dass er nach seinem Verzicht auf den Fraktionsvorsitz ganz und gar von der Hauptrolle ins stumme Fach wechselte. Zwar ist sein Abschied vom Fraktionsvorsitz unumkehrbar, und damit auch der Verlust der medienwirksamen Rolle des Oppositionsführers. Aber Gysi bleibt ja im Bundestag. Mehr noch. Er hat sich eine erneute Kandidatur für eine weitere Legislaturperiode offen gelassen.
Träte er an, würde er seiner Partei eine Sorge nehmen können. Im kommenden Bundestagswahlkampf 2017 braucht die Partei populäre Köpfe. Ein Gysi, der wieder für ein Mandat kandidierte, wäre selbstverständlich das bestmögliche Zugpferd in der Wahlauseinandersetzung. Die Rolle des Spitzenkandidaten wäre für Gysi noch immer eine Versuchung.