Grabeskirche in Jerusalem Die Menschen und das Allerheiligste

JERUSALEM · Der wichtigste sakrale Ort der Christenheit ist seit Jahrhunderten Gegenstand von Streitigkeiten zwischen den Glaubensgemeinschaften.

 Gläubige beten in der Golgathakapelle der Grabeskirche mit dem griechisch-orthodoxen Kreuzigungsaltar.

Gläubige beten in der Golgathakapelle der Grabeskirche mit dem griechisch-orthodoxen Kreuzigungsaltar.

Foto: EPD

Andrei putzt und putzt und putzt. Gerade schwebte noch der Geruch von Weihrauch in der Luft, jetzt erschlägt Chemie die Nase. "Hier, dieses Zeug ist für das Messinggeländer", sagt Andrei und zeigt ein Fläschchen mit Putzmittel. Kein gewöhnlicher Ort für einen Reinigungseinsatz: Andrei hat sich die Kalvarienkapelle in der Jerusalemer Grabeskirche vorgenommen. Das Herz der Christenheit schlägt seit 2000 Jahren hier, nun soll das Gotteshaus für Ostern auf Hochglanz gebracht werden.

Wird er die ganze Kirche putzen? Andrei rollt mit den Augen. Was für eine Frage! Die Kalvarienkapelle gehört den Griechisch-Orthodoxen, deshalb kann er nur dort putzen. Was die Katholiken und die Armenier dazu sagen würden, wenn er sich in ihren Kapellen zu schaffen machte, mag er sich nicht ausdenken. Eifersüchtig wachen sechs christliche Gemeinschaften über die Grabeskirche in der Jerusalemer Altstadt, und sie bewachen sich auch gegenseitig. Es kann handgreiflich werden im Gotteshaus.

Und so hüten zwei moslemische Familien die Schlüssel zum Heiligen Grab. Heute ist Adeeb Jawad Joudeh ganz offiziell der Schlüsselbewahrer, ein Amt, das die Joudehs seit Jahrhunderten innehaben. Die älteste Urkunde, die das bescheinigt, stammt von 1517.

Einige Minuten vor 21 Uhr sind die letzten Touristen vor die Tür gesetzt worden, dann hat ein Mitglied der Joudeh-Familie das hölzerne Doppeltor der Grabeskirche von außen abgeschlossen und die dafür benötigte Leiter durch eine Luke im Tor geschoben, wo sie ein Priester im Innern entgegengenommen hat.

Mit Andrei haben sich zehn weitere Pilger für die Nacht einschließen lassen, ein Brauch, der schon im Mittelalter existierte. Nur ging es damals anders an dem heiligsten Ort des Christentums zu: Zeitzeugen berichten von Trinkgelagen und Liebesspielen, im Gotteshaus gezeugte Kinder galten als gesegnet. Heute lautet die Anweisung für Nachtgäste: "Kein Singen, kein Schlafen, kein Kerzenanzünden." Noch schnell der Weg zu den Toiletten gezeigt, und dann senken sich Stille und Dunkelheit über den Felsen von Golgatha, die Kapelle mit dem Grab Jesu, Nischen und Altäre und die Grotte tief unten im Bergmassiv, wo Helena, die Mutter des römischen Kaisers Konstantin, vor 1700 Jahren das wahre Kreuz entdeckt haben soll.

Dem Touristen, der tagsüber die Kirche besichtigt, erscheint der Bau als Labyrinth, verwirrend, überladen, düster, mit protzig-kitschigen Dekorationen. In der spärlichen Beleuchtung der Nacht aber bekommt der Innenraum ein Eigenleben, die mächtigen Mauern und Säulen des Kreuzfahrerbaus führen ihr eigenes Drama auf, wirken wie Stein gewordene Symbole für Luthers Kirchenlied "Eine feste Burg ist unser Gott".

Faith ist überwältigt. Die junge amerikanische Nonne trägt ein blaues, langes Ordensgewand. Sie gehört der katholischen Gemeinschaft "Incarnate Word" (Fleischgewordenes Wort) an. Gerade hat sie in der Kapelle der Katholiken eine Andacht gefeiert, während die lateinischen Gebete der Mönche im Sprechgesang aus einem angrenzenden Raum herüberschallten. Faith ist das erste Mal in Israel und im Westjordanland. Für eine Woche sind sie und ihre Mitschwestern aus Italien ins Heilige Land gereist. "Wir kommen gerade aus Bethlehem, es ist schwer für die Christen dort", sagt Faith und seufzt.

In Israel herrscht Religionsfreiheit. Das Tourismusministerium wirbt gern für die Annehmlichkeiten, die der jüdische Staat christlichen Pilgern aus aller Welt bereitet. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass die christlichen Palästinenser im Westjordanland an Ostern nicht einfach in die Grabeskirche fahren können, wenn sie keine israelische Genehmigung haben. Selbst die Christen mit israelischer Staatsbürgerschaft, sofern sie Araber sind, beklagen Diskriminierungen.

Gerade hat eine Gruppe arabischer Christen eine Petition vor Gericht eingereicht, weil sie sich durch die israelischen Sicherheitskräfte während der orthodoxen Osterfeuerzeremonie am Heiligen Grab belästigt fühlte. Die Polizei führt Sicherheitsbedenken an, was nicht unberechtigt erscheint, nachdem sich die Priester schon in der Kirche um Vorrechte geprügelt haben. Die arabischen Christen fühlen sich dennoch zurückgesetzt, berichten von rabiater Behandlung durch die Beamten an den Straßensperren.

Dass Jesu Friedensbotschaft in dieser Welt noch immer auf taube Ohren und harte Herzen stößt, zeigt sich gerade an dem Ort, an dem der historische Christus wohl wirklich seine letzten Tage erlebte und gekreuzigt wurde. Darin sind sich die Archäologen einig. Jerusalem. Während ihrer jahrtausendealten Geschichte ist die Stadt nie zur Ruhe gekommen. Juden, Babylonier, Griechen, Römer, Araber und Türken herrschten hier wechselweise, eroberten, zerstörten, bauten wieder auf. Über die Zeiten sind Hunderttausende Menschen in Jerusalem gefoltert, ausgehungert, ermordet worden.

Auch die Erbauer der Grabeskirche, die Kreuzfahrer, brachten in ihren Feldzügen gegen die islamischen Herrscher Jerusalems Zerstörung und Tod über die Bevölkerung. So ist die Grabeskirche, deren älteste Teile bis ins 4. Jahrhundert zurückreichen, in ihrer wechselvollen Geschichte ein Abbild menschlichen Wahns, Grausamkeit und Hybris geworden, aber auch von Glaubensstärke und kreativem Gestaltungswillen.

Andrei kann davon erzählen, er kommt selbst aus einer Unruhegegend: Vor einer Woche hat er im ukrainischen Odessa seine sieben Sachen gepackt und ist nach Jerusalem geflogen. Der junge Mann ist Ingenieur, aber er hat nach den gewaltsamen Auseinandersetzungen in der Ukraine seine Arbeit verloren. Deshalb hat er sich dem freiwilligen Putztrupp in der Grabeskirche angeschlossen. Wie sieht er den Konflikt mit Moskau, der auf der Krim begonnen hat? Er verstehe das eigentlich nicht, meint er: "Russen, Ukrainer, was macht das für einen Unterschied?"

Das Gespräch lenkt den Blick wieder auf das umkämpfte Territorium in der Grabeskirche. Es erinnert daran, dass sich der Krimkrieg zwischen Russland und dem Osmanischen Reich 1853 nebenbei auch an der Frage entzündet hatte, welche der christlichen Gemeinschaften am Heiligen Grab das Sagen haben sollte. Bis heute teilen sich Griechen, katholische Franziskaner und Armenier die Aufgabe, halten nachts reihum ihre Gottesdienste um die Kapelle ab. Die äthiopischen Christen, die Kopten und Syrer spielen nur Nebenrollen auf dem Dach und in Nischen.

Um 4 Uhr morgens wird es im südlichen Seitenschiff geschäftig. Zwei Kirchendiener der Armenier, eben noch in Jeans und Pullover, werfen sich goldbestickte Gewänder über, tragen goldenes Messgeschirr und ein sorgfältig gefaltetes Tuch auf einer Platte in die Grabkammer. Schrille Glockentöne gellen in den Ohren, ein dritter Diakon kommt verschlafen eine Treppe hinunter, gähnt und schlurft in Hausschuhen über die abgetretenen, von Millionen Pilgerschuhen glänzend polierten Steinfliesen. Mit Glöckchen verzierte Weihrauchgefäße schwingen durch die Luft, bis der Priester im lilafarbenen Ornat und mit goldverzierter hoher Kappe sein morgendliches Zeremoniell am Grab vollzieht.

Um 5 Uhr ist die Nacht vorbei, auch wenn der Hahn noch nicht gekräht hat. Dafür ruft der Muezzin von der benachbarten Moschee. Ende Mai kommen Papst Franziskus und der griechisch-orthodoxe Patriarch von Konstantinopel nach Jerusalem. Sie wollen in der Grabeskirche ein Zeichen der Versöhnung setzen, auch wenn eine Geste allein den alten Streit über religiöse Auslegungen nicht einfach beilegen wird.

Als der griechische Diakon die Luke in der Tür öffnen will, um die Leiter durchzuschieben, bedeutet ihm der armenische Diakon, dass eigentlich er an der Reihe sei. Es geht hin und her, in gebrochenem Englisch, bis sich der Grieche durchsetzt. Religion? Politik? Eher wohl: So ist der Mensch.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort