Bündnis seit 70 Jahren Die Nato steckt in einer Krise der Entfremdung

Brüssel · Die Nato steckt zu ihrem 70. Geburtstag in einer tiefen Krise der Entfremdung. Zum Jubiläum schicken die 29 Mitgliedstaaten nur ihre Außenminister für eine schlichte Zeremonie nach Washington. Dort geht es nach der Feier wieder um das Streitthema Lastenteilung.

Was ist da los? Der Jubilar feiert – aber weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Kaum anzunehmen, dass sich Donald Trump überhaupt die Mühe gemacht hat, nachzulesen, welchen Vertragstext die Gründungsstaaten der Nato an jenem 4. April 1949 – da war der Zweite Weltkrieg gerade vier Jahre zu Ende – für ihr Bündnis kollektiver Sicherheit unterzeichnet haben. Ihre runden Geburtstage hatte die Nato zuletzt meist groß gefeiert – mit einem Gipfel der Staats- und Regierungschefs.

Doch wenn die Nato an diesem Donnerstag am Ort ihrer Geburt in Washington DC ihre Gründung vor 70 Jahren feiert, schicken die 29 Mitgliedstaaten „nur“ ihre Außenminister in die US-Hauptstadt. Der nächste Nato-Gipfel ist erst für Dezember anberaumt – ausgerechnet in London. Der dann amtierende britische Regierungschef dürfte jedoch wegen eines möglichen Brexits und den Folgen andere Probleme haben, als Salbe und Wundverbände für die angeschlagene transatlantische Allianz zu organisieren. Die Krise der Nato ist handfest, mehr als nur ein transatlantischer Schnupfen.

Heiko Maas ist zum offiziellen Nato-Gründungstag 4. April spät am Vorabend deutscher Zeit mit dem Zug aus New York eingerollt, wo er noch tags zuvor eine Sitzung des UN-Sicherheitsrates zum Atomwaffensperrvertrag geleitet hat. Maas hatte in New York bei einer Rede beim Netzwerk „American Council on Germany“ noch gesagt, öffentliche Debatten über Lastenteilung in der Nato hätten „Unsicherheit“ geschaffen – „gerade in einer Zeit, in der Russland unsere Einheit immer wieder auf die Probe stellt“.

Maas: Der deutsche Wehretat wird auch weiter ansteigen

Doch die Europäer wüssten, dass sie mehr Verantwortung übernehmen müssten. Dies gelte auch für Deutschland, das seine Verteidigungsausgaben seit 2014 um 40 Prozent erhöht habe. Der deutsche Wehretat werde auch weiter ansteigen: auf 1,5 Prozent des Bruttoinlandsproduktes bis 2024. Doch man könne auch nicht ignorieren, dass der transatlantische Konsens geteilter Werte „aus der Bahn geraten“ sei. Es gehe um das zwischen Europa und den USA lange Zeit gültige Bekenntnis zu einer multilateralen, regelbasierten Weltordnung. Und die Antwort darauf könne nicht sein: „Mein Land zuerst.“ Eine unverhohlene Anspielung auf die „America first“-Rhetorik des US-Präsidenten.

Jetzt wohnt Maas einer schlichten Zeremonie zum Jahrestag der Unterzeichnung des Nordatlantikvertrages bei, zu der die Nato keine Öffentlichkeit zulässt. Ein Geburtstag gewissermaßen ohne Gratulanten, außer dem verordneten protokollarischen Schulterklopfen. Das passt zum Ärger im Bündnis über Lastenteilung und nationale Verteidigungsausgaben, seit mit Trumps Amtsantritt stärker denn je über die Einhaltung des Zwei-Prozent-Ziels gestritten wird.

Streit ums liebe Geld

Deutschland hat der US-Präsident als einen der säumigen Zahler ohnehin ins Visier genommen. Beim Nato-Gipfel im vorigen Sommer in Brüssel ging er die Bundesregierung erst wegen des erneut verfehlten Zwei-Prozent-Zieles an, unterstellte Deutschland anschließend, es paktiere wegen der geplanten Pipeline Nordstream 2 mit dem Gegner und mache sich zum Gefangenen Russlands. Schließlich führte Trump den Nato-Gipfel wegen des Streits um die Verteidigungsausgaben fast an den Rand des Scheiterns. Auch am Tag nach dem Geburtstag werden die Nato-Außenminister wieder über Lastenteilung und Abrüstung debattieren. Der Streit ums liebe Geld geht weiter im Bündnis.

Immerhin gewährte der US-Präsident, der das Bündnis zunächst als „veraltet“ bezeichnet hatte, diese Einschätzung dann wieder zurücknahm, Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg am Tag vor dem Geburtstagstreffen der Nato-Außenminister einen Termin im Weißen Haus. Mit einem Lob für die Alliierten zum Geburtstag, deren Verteidigungsausgaben „raketenartig“ angestiegen seien. Trump: „Gewaltiger Fortschritt wurde erzielt, und die Nato ist viel stärker.“

Der Wandel der Nato wird zum Fall für einen Krisenmanager

Niemand könne bestreiten, dass es schwerwiegende Differenzen zwischen den Partnern gebe, hatte Stoltenberg vor seiner Abreise aus Brüssel eingeräumt. Der Norweger dabei unmissverständlich: „Ich erwarte von Deutschland, dass es seine Versprechen einhält.“ Maas: „Wir stehen zu unseren Zusagen.“ Etwa, wenn Deutschland für dieses Jahr die superschnelle Speerspitze der Nato führe. In Washington betont Maas, dass Lastenteilung mehr sei als nur die reine Höhe des Verteidigungsetats. Es gehe um das gesamte Spektrum von Ressourcen, um Fähigkeiten und Beiträge zu Nato-Operationen.

Stoltenberg dürfte gleichwohl nicht erfreut sein, dass er zum 70. Geburtstag keinen Gipfel der Staats- und Regierungschefs auf die Beine stellen konnte. Der lange als Erfolgsgeschichte erzählte Wandel der Nato wird mittlerweile zum Fall für einen Krisenmanager. Nach Ende des Kalten Krieges konnte sich das Bündnis vor Zulauf kaum retten: Mit dem Programm „Partnership for Peace“ machte sie zahlreiche mittel- und osteuropäische Staaten des untergegangenen Warschauer Paktes fit für die Nato – sehr zum Argwohn Russlands.

Der Jugoslawien-Krieg der Nato 1999 gegen den serbischen Machthaber Slobodan Milosevic wegen dessen Vertreibungspolitik im Kosovo steht bis heute in der Kritik, weil die Allianz außerhalb des Bündnisfalles und ohne UN-Mandat agierte. Die damalige rot-grüne Bundesregierung führte die Bundeswehr in den ersten Kriegseinsatz nach Ende des Zweiten Weltkrieges. Außenminister Joschka Fischer musste auf einem turbulenten Parteitag in Bielefeld einen Farbbeutelwurf hinnehmen.

Tiefste Krise seit Ende des Kalten Krieges

Inzwischen steckt die Nato in einer ihrer tiefsten Krisen seit Ende des Kalten Krieges: Die USA haben den Europäern klar signalisiert, dass sie künftig für ihre Sicherheit stärker selbst sorgen müssen. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) ahnte schon im Mai 2017 in einem Bierzelt in Trudering: „Die Zeiten, in denen wir uns auf andere völlig verlassen konnten, die sind ein Stück weit vorbei, das habe ich in den letzten Tagen erlebt.“ Andere? Gemeint war natürlich die Nato-Führungsmacht USA. Merkel weiter: „Und deshalb kann ich nur sagen: Wir Europäer müssen unser Schicksal wirklich in unsere eigene Hand nehmen.“

4. April 1949: Die zwölf Gründungsstaaten – die USA, Kanada sowie zehn Europäer – unterzeichneten ihren Pakt kollektiver Verteidigung und sicherten sich darin Beistand zu. Zentral ist darin Artikel fünf, in dem die Nato festlegt, dass ein Angriff auf eines seiner Mitglieder ein Angriff gegen alle ist. Kollektiver Beistand, in der Geschichte des Bündnisses erst einmal gezogen – in der Folge der Terroranschläge des 11. September 2001 in New York und Washington. Der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) stand US-Präsident George W. Bush schnell bei: „Ich habe ihm auch die uneingeschränkte – ich betone: die uneingeschränkte – Solidarität Deutschlands zugesichert.“

Uneingeschränkte Solidarität heute? Zuletzt hörte sich das anders an. Kanzlerin Merkel rechnete jüngst bei der Münchner Sicherheitskonferenz scharf mit Trump wegen dessen Alleingängen und permanenten Androhungen von Strafzöllen gegen Deutschland ab. Eine Welt in Unordnung, jedenfalls mit einer sich stark verändernden Ordnung. Wer nun all die Puzzleteile wieder zusammensetze, in die die Welt gerade zerfalle? fragte Merkel. Die Antwort gab sie selbst: „Nur wir alle zusammen.“ Fast die Hälfte der Teilnehmer erhob sich zum Applaus. Standing Ovations. Alle zusammen? Die Nato sollte dazugehören. Auch nach ihrem 70. Geburtstag.

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