Kibbuz Kfar Aza Ein Leben mit der Angst am Gaza-Streifen

ISRAEL · Daniel ist sieben Jahre alt und der ganze Stolz seiner Großeltern. Ebenso wie sein fünfjähriger Bruder Elad und seine 18 Monate alte Schwester Talia. Wenn die drei Kinder bei Oma und Opa übernachten, schlafen sie im Schutzbunker des Hauses.

"Das ist praktischer", sagt Großvater Ralph Lewinsohn, "dann müssen wir die Kinder nachts bei Granatenangriffen nicht in den Bunker bringen".

Der Bunker, das ist ein an das Haus angebauter Raum von knapp zehn Quadratmetern. Die Wände sind aus Beton, das einzige Fenster kann von einer seitlich angebrachten Stahlplatte gesichert werden, die man davor schiebt. Zum Übernachten wird das rote Schlafsofa ausgezogen. In dem großen Wandregal stehen Bücher, einige für Kinder. Daraus können Ralph Lewinsohn und seine Frau Barbara ihren Enkeln vorlesen, wenn sie wegen der Granatenangriffe abgelenkt werden müssen.

Die Familie Lewinsohn lebt im Kibbuz Kfar Aza, einer israelischen Gemeinschaftssiedlung mit rund 800 Mitgliedern. Jedes Wohnhaus verfügt hier über einen solchen Bunker. Die israelische Regierung hat sie bezahlt, um ihre Bürger in dieser gefährlichen Region so gut wie möglich zu schützen. Denn die Grenze zum nordöstlichen Teil des Gaza-Streifens ist nur zwei Kilometer entfernt. Von dort kommen die Raketen, die meisten aus den palästinensischen Städten Beit Hanun und Beit Lahiya. Ziele sind in dieser Region neben den Kibbuz-Siedlungen vor allem die Städte Sderot und Aschkelon.

Es sind Kassam-Raketen, einfache, mit Sprengstoff und Splittern gefüllte Stahlkonstruktionen. Sie werden meistens von Hand gefertigt, enthalten den Sprengstoff TNT und eine Treibstoffmischung aus Zucker und Dünger. Klassische Kassam-Raketen sind zwischen 80 Zentimeter und zwei Meter lang und haben eine Reichweite zwischen drei und zehn Kilometern. Der Kibbuz der Familie Lewinsohn wird also schon mit dem einfachsten Modell dieser Splitterbomben erreicht. Zudem sind die Kassam-Raketen vom Militär kaum abzuwehren. Sie sind relativ klein, die Flugzeit ist kurz.

Je angespannter der Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern ist, desto mehr Raketen werden auf israelisches Gebiet abgefeuert. "In schlechten Zeiten landen an manchen Tagen 20 bis 30 Raketen in unserem Kibbuz, dann müssen wir ihn verlassen und bei Verwandten oder Freunden unterkommen. Jetzt ist es seit Wochen so ruhig wie lange nicht mehr", sagt Lewinsohn.

Nach Schätzungen wurden seit 2001 rund 11.000 Raketen aus dem Gaza-Streifen auf das israelische Gebiet geschossen. Israels Militär feuerte zurück in den mit rund 1,7 Millionen Einwohnern dicht besiedelten Raum. Etwa 40 000 Menschen leben dort auf einem Quadratkilometer. Das bedeutet stets Tod und Zerstörung - auf beiden Seiten. Ralph Lewinsohn denkt oft an den 9. Mai 2008. Sein enger Freund Jimmy Kadoshim arbeitete im Kibbuz in seinem Garten, als eine Kassam-Rakete einschlug und ihn tötete. Kadoshim wurde 48 Jahre alt.

Warum bleiben die Menschen weiterhin hier? Warum ziehen sie nicht an einen sichereren Ort? Diese Fragen hat Lewinsohn schon oft gehört. Und die Antworten sind stets dieselben: "Ein Kibbuz ist nicht nur ein Wohnort. Er ist unser Zuhause, er ist ein Teil von uns. Wir leben seit 30 Jahren in dieser besonderen Gemeinschaft. Wir kennen uns, wir helfen uns, wir feiern gemeinsam, wir trauern gemeinsam. Unsere Kinder sind hier aufgewachsen. Hier kann man doch nicht einfach weggehen!"

Ralph Lewinsohn wurde vor 61 Jahren im heutigen Namibia geboren. Seine Eltern waren vor der Judenverfolgung aus Deutschland geflüchtet. Er besuchte in Namibia eine katholische Missionsschule, absolvierte seinen Militärdienst in Südafrika und machte dort eine Ausbildung an einer Hotelmanagement-Schule.

1977 wanderte er als 25-Jähriger nach Israel aus, ging auch dort zum Militär und ließ sich vor 15 Jahren zum Reiseleiter ausbilden. Lewinsohn ist ein ruhiger Mann, freundlich und unaufgeregt. Emotionen zeigt er vor allem dann, wenn es um seine Familie geht, also um seine Frau, die beiden erwachsenen Kinder Alon und Michal sowie die Enkelkinder. Und um den Kibbuz.

Die Kibbuz-Philosophie stammt aus den Anfängen des vergangenen Jahrhunderts und folgt der sozialistischen Idee. Im Oktober 1909 wurde Degania Alef gegründet, der älteste Kibbuz Israels. Kfar Aza, in dem Lewinsohn lebt, ist knapp 50 Jahre alt. Insgesamt gibt es 270 Kibbuzim, in denen rund 100.000 Israelis leben. In der ersten Generation waren es landwirtschaftliche Gemeinschaftssiedlungen, die auf dem Prinzip der Gleichheit beruhten.

Jeder brachte sich so in die Gemeinschaft ein, wie er konnte. Gehalt gab es ebenso wenig wie Privateigentum. Doch das ist längst Geschichte. Die meisten Kibbuzim sind privatisiert, werden von Betriebswirten gemanagt. Die Bewohner sind zum Teil über Genossenschaftsmodelle an der Siedlung beteiligt, die Felder werden von ausländischen Arbeitern, vor allem aus Thailand, bestellt. In der Gemeinschaftsküche und im Kantinenbereich waren früher fast 30 Kibbuz-Mitglieder beschäftigt, heute übernimmt das ein auswärtiger Catering-Service mit fünf Mitarbeitern.

Und doch lebt der Gemeinschaftsgedanke in vielen Bereichen weiter; zum Beispiel in den Kindergärten oder in dem großen Speisesaal, der zwar den Charme einer Uni-Mensa versprüht, aber dennoch signalisiert: Wir essen gemeinsam. Dieses Wir-Gefühl dürfte vielen Bewohnern auch helfen, mit der permanenten Bedrohung zu leben. Denn die ist überall zu spüren. Trotz der Idylle, die vom Kibbuz ausgeht. Viele Gebäude erinnern an Ferienhäuser, die Anlage an eine sonnendurchflutete Feriensiedlung, in der Palmen Schatten spenden, an jedem Weg und an jedem Grundstück Blumen blühen.

Die Bunker und Zäune passen nicht in diese Idylle. Der Bunker am Spielplatz etwa soll es den Kindern ermöglichen, bei einem Alarm schnell Schutz zu finden. Er wurde von einer norwegischen Hilfsorganisation gespendet. Die Sicherheitsräume sind so über die Gemeinde verteilt, dass man innerhalb von 15 Sekunden einen erreichen kann. Zudem wird man per SMS über aktuelle Bedrohungen informiert. Wer mit dem Auto unterwegs ist, hat "in schlechten Zeiten" die Fenster geöffnet und lässt die Musik aus, um einen Alarm zu hören. Dann soll man das Auto schnell abstellen und sich in den Straßengraben legen.

Der neue Kindergarten ist zwei Jahre alt und das modernste Haus auf dem Gelände. Die israelische Regierung hat ihn bezahlt. Das Beton-Gebäude ist Spielort und Schutzbunker zugleich, so dass die Kinder bei einem Alarm nicht in ein anderes Gebäude laufen müssen. Die massiven Stahlzäune um das Grundstück und die Spielecken sollen zusätzlichen Schutz bieten. Mehr kann man wohl nicht tun.

Für die Luftüberwachung ist das israelische Militär zuständig. Permanent sind Drohnen unterwegs, die das Gelände im Grenzgebiet kontrollieren. Lewinsohn und seine Nachbarn kennen die Geräusche. Das leise Summen der Drohnen, den Pfeifton, wenn Kassam-Raketen sich nähern. Das Zischen, wenn kurz danach Raketen aus israelischen Hubschraubern auf die vermuteten Palästinenserstellungen in Gaza abgefeuert werden.

Besonders schlimm war es Mitte November 2012, also vor knapp einem Jahr. Auf den verstärkten Raketenbeschuss aus dem Gaza-Streifen reagierte Israel mit einer einwöchigen Militäroffensive. Zeitweise wurden Artillerie-Einheiten direkt neben dem Kibbuz stationiert, die permanent in den nahen Gaza-Streifen feuerten.

"Dann vibriert das ganze Haus", sagt Lewinsohn. Natürlich sehnt auch er sich nach einem Ende des israelisch-palästinensischen Konflikts, natürlich sehnt auch er sich nach Frieden. Und sicherlich hat er sich in seinem Innersten häufiger in die Lage der Palästinenser versetzt. Auch sie wollen ihre Rechte, auch sie wollen in einem eigenen Staat leben. Deshalb dürfte es zu einer Zwei-Staaten-Lösung keine Alternative geben. Das sieht auch Ralph Lewinsohn so.

Doch wann ist es soweit? Wie könnten die Vereinbarungen aussehen? Welche Auswirkungen hätte das für das Leben der Menschen in Israel, in den Palästinensergebieten, in der Grenzregion? Wie können sich Menschen näherkommen, die seit Jahren aufeinander schießen? Und vor allem: Werden die Enkelkinder Daniel, Elad und Talia jemals in Frieden in Israel leben können? Lewinsohn weiß es nicht - weil es keiner weiß.

"Derzeit ist es so ruhig wie lange nicht mehr", sagt Ralph Lewinsohn zum wiederholten Mal. Die Kleinen werden bei ihren Besuchen trotzdem weiterhin im Schutzbunker schlafen. Das ist sicherer. Und sie kennen es auch nicht anders.

50 Jahre Israel-Reisen der Bundeszentrale

Besuche in den Grenzgebieten zwischen Israel und den Palästinensergebieten im Gaza-Streifen und im Westjordanland gehörten neben Jerusalem, Tel Aviv und Haifa zu den Stationen der jüngsten Delegationsreise der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) mit Sitz in Bonn.

Die Israel-Studienreisen der bpb finden seit 50 Jahren statt. Bei einem Jubiläumsempfang in Tel Aviv hoben aus diesem Anlass mehrere Redner die besondere Bedeutung des deutsch-israelischen Austauschs und die wichtige Arbeit der Bundeszentrale hervor.

Der deutsche Botschafter in Israel, Andreas Michaelis, und bpb-Präsident Thomas Krüger sprachen vor rund 300 Gästen aus Deutschland und Israel von einem wichtigen und vertrauensvollen Miteinander. Das gegenseitige Kennenlernen sei auch für die Zukunft das Fundament einer freundschaftlichen Beziehung beider Länder.

In den vergangenen 50 Jahren organisierte die bpb 270 Israel-Reisen mit insgesamt 8200 Teilnehmern.

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