Interview mit Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz „Einzige Chance ist die Sicherung der Außengrenzen“

Michael Bröcker sprach mit Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz über die Verteilung von Flüchtlingen in Europa, die neue Rolle der Grenzschutzagentur Frontex, ein einheitliches Asylsystem und den UN-Migrationspakt.

 „Es gibt keine Mitglieder erster und zweiter Klasse in Europa“, sagt Sebastian Kurz.

„Es gibt keine Mitglieder erster und zweiter Klasse in Europa“, sagt Sebastian Kurz.

Foto: picture alliance/dpa

Herr Kurz, 2700 Veranstaltungen, 40 Gipfeltreffen. Österreich gibt morgen den Vorsitz im EU-Rat nach sechs Monaten wieder ab. Sind sie auch ein bisschen froh?

Sebastian Kurz: Es war intensiv, das stimmt. Aber auch erfolgreich. Es ist gut zu sehen, dass auch ein kleines Land wie Österreich seinen Beitrag zur Europäischen Union leisten kann. Wir haben in einigen Themen Fortschritte erzielen können, insbesondere in der Migrationsfrage haben wir eine Trendwende einleiten können.

Die EU ist doch beim Umgang mit Flüchtlingen weiter tief gespalten.

Kurz: Die grundsätzlichen Ziele wie ein sicherer Außenschutz, die Unterscheidung zwischen Arbeitsmigration und Schutz vor Verfolgung sowie die Bekämpfung der Fluchtursachen teilen alle. Die Fehlentwicklungen in der Flüchtlingspolitik von 2015 wurden korrigiert. Die Zahl der Migranten, die Europa erreichen, liegt dieses Jahr um 95 Prozent niedriger als vor drei Jahren.

Eine systematische Verteilung der Flüchtlinge ist aber für immer vom Tisch, oder?

Kurz: Die gesetzlich verordnete Verteilung von Flüchtlingen über die EU-Staaten hinweg, habe ich nie als Lösung angesehen. Es gibt bei vielen Mitgliedern keine Bereitschaft, weitere Flüchtlinge aufzunehmen, und es gibt keinen Konsens, wer von wo wohin verteilt werden soll. Und auch viele Flüchtlinge lehnen dies ab. Insofern erübrigt sich die Debatte. Die einzige Chance ist die Sicherung unserer Außengrenzen.

Die EU-Grenzschutzagentur Frontex soll auf 10 000 Beamte aufgestockt werden, aber wohl nicht vor 2027. Allein in Berlin gibt es doppelt so viele Polizisten. Entschlossenheit sieht anders aus.

Kurz: Die Zahl ist nicht alleine entscheidend, sondern das Mandat. Frontex hat keinen reinen Rettungsauftrag mehr, sondern ist auch eine Rückstellungsagentur. Das ist der Systemwechsel. Frontex darf mit den Mittelmeer-Anrainerstaaten Kooperationen abschließen zur Rückführung der Migranten.

In Bosnien, in Mazedonien oder in Griechenland warten jetzt schon Hunderttausende in Lagern auf die Weiterreise. Was macht die EU mit diesen Menschen?

Kurz: Es gibt nach wie vor illegale Migration, richtig. Aber das Glas ist nicht halb leer. Die Entwicklung ist ja deutlich entspannter. Es hat ein Systemwechsel stattgefunden. Wer sich in Afrika als illegaler Migrant auf den Weg nach Europa macht, kann nicht mehr automatisch damit rechnen, in Europa zu landen. Türkische oder ägyptische Schiffe stoppen beispielsweise bereits die Überfahrt. Über die Mittelmeer-Italien-Route sind seit Wochen so gut wie keine Migranten mehr gekommen, die Route ist de facto geschlossen. Das Sterben im Mittelmeer ist Gott sei Dank deutlich gesunken. Wir können Migranten nie zu hundert Prozent stoppen, aber wir können die Anreize abmildern und den Schleppern das Geschäft entziehen. Das ist der humane Ansatz, denn es sterben so weniger Menschen im Mittelmeer oder auf der Flucht. Wo ein Wille, da auch ein Weg.

Die besonders betroffenen Länder Italien oder Griechenland benötigen keine Hilfe?

Kurz: Das ist die vollkommen falsche Perspektive. Die besonders belasteten Länder sind Schweden, Deutschland oder Österreich, denn in diesen Ländern wurden mit Abstand am meisten Asylanträge gestellt. Aber die EU hat auch die Erstaufnahmeländer wie Griechenland oder Italien keineswegs alleine gelassen. Jedoch haben wir viel zu lange versucht, Migrationsströme zu ordnen oder zu verwalten, anstatt die Migration an der Wurzel zu packen und vor den Toren der EU die Migrationsbewegungen zu stoppen. Immer, wenn sich die EU nicht an ihre eigenen Regeln hält, etwa die Maastricht-Kriterien bei der Verschuldung oder nun die de facto gescheiterte Dublin-Regel, bekommt die Union ein Problem.

Also ist ein einheitliches Asylsystem Wunschdenken?

Kurz: Das liegt in der Tat in weiter Ferne.

Warum haben sie den UN-Migrationspakt boykottiert, an dem sie als Außenminister selbst mitgewirkt haben?

Kurz: Ich habe daran nicht mitgewirkt, und der Pakt beinhaltet eine Selbstverpflichtung zu Inhalten, die ich nicht teile. Seitdem ich politisch denken kann, setze ich mich für die Trennung von Asyl aus Schutzgründen und Arbeitsmigration ein. Dieser Pakt vermischt beide Phänomene. Das wollen wir nicht.

Wo ist die EU heute einiger als Anfang des Jahres?

Kurz: Beim Brexit zeigt sich die EU sehr einig seit eineinhalb Jahren, bei anderen Themen gibt es unterschiedliche Ansätze. Das ist auch nicht schlimm. Problematisch ist, wenn manche Mitgliedstaaten auf andere Staaten herabsehen und sich moralisch überlegen fühlen. Es gibt aber keinen Erziehungsauftrag für manche Mitgliedsstaaten, und es gibt auch keine Mitglieder erster und zweiter Klasse.

Ein konkretes Beispiel bitte?

Kurz: Man kann ein Land eben nicht dazu zwingen, Flüchtlinge aufzunehmen. Das ist eine souveräne Entscheidung der Staaten. Es gibt keine Kompromisse bei Rechtsstaatlichkeit und Demokratie, aber es muss den Respekt vor Traditionen oder unterschiedlichen Herangehensweisen bei aktuellen politischen Fragen geben dürfen.

Österreich versteht sich als Brückenbauer zwischen den großen Mitgliedsländern wie Frankreich und Deutschland und den kleinen Staaten in Osteuropa. Vergrößert sich die Kluft derzeit?

Kurz: Es wäre dramatisch, denn die Idee der Europäischen Union ist Zusammenhalt zwischen den Staaten, auch zwischen kleinen und großen Mitgliedsstaaten. Unterschiedliche politische Zugänge in Sachfragen dürfen nicht zu Moralfragen aufgebauscht werden. Nur bei Rechtsstaat und Demokratie darf es keine Kompromisse geben.

Ist Viktor Orban ein lupenreiner Demokrat?

Kurz: Es läuft derzeit ein Artikel-7-Verfahren, das sich mit den Vorwürfen in puncto rechtsstaatlich fragwürdiger Entscheidungen in Ungarn auseinandersetzt. Das ist jetzt der Beginn eines Dialogs mit Ungarn und noch keine Verurteilung. Es wird sich zeigen, ob die Vorwürfe berechtigt sind. Vorschnelle Urteile sind fehl am Platz.

Europaweit reüssieren rechtsnationale Parteien. Ist die Europawahl 2019 eine Schicksalswahl?

Kurz: Ich neige nicht zu Übertreibungen. Aber jede Europawahl ist eine Richtungswahl. Diese sicherlich auch.

Worauf führen Sie die Erfolgsstory der Rechten zurück?

Kurz: Immer dann, wenn die Parteien der politischen Mitte die Kontrolle in bestimmten Politikfeldern verlieren oder Fehlentwicklungen abtun, entstehen diese Kräfte. Natürlich gehört das Thema Migration dazu.

Das manche als Mutter aller Probleme bezeichnen, manche für zu hochgejazzt halten.

Kurz: Es ist doch offensichtlich, dass die Frage, wer kommt in unser Land, wie leben wir mit unterschiedlichen Kulturen zusammen und welche demografische Entwicklung gibt es, zentrale Fragen für ein Land sind, die jeden berühren. Es ist doch absurd, darüber zu diskutieren, ob man darüber diskutieren kann.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort