Bürgermeister-Neuwahl in Istanbul Erdogan macht Stimmung gegen angebliche Christianisierung

Istanbul · Kurz vor der Neuwahl des Bürgermeisters der türkischen Metropole Istanbul am 23. Juni setzt Präsident Recep Tayyip Erdogan auf ein altbewährtes Mittel: Polarisierung.

 Wahlkampf-Heimspiel: Erdogan bei einer Moschee-Eröffnung

Wahlkampf-Heimspiel: Erdogan bei einer Moschee-Eröffnung

Foto: AP

Die Wirtschaftslage ist schlecht, die Umfragewerte sind ungünstig, und dem Wahlkampf der türkischen Regierungspartei AKP fehlt ein zündendes Thema. Bei einem Nachtgebet mit 300.000 Anhängern am Bosporus beklagte Recep Tayyip Erdogan angebliche Versuche, Istanbul wieder zu einer christlichen Stadt zu machen. Istanbul müsse „Islam-bol“ – voller Islam – bleiben, sagte Erdogan. Nur drei Wochen hätten die Gläubigen noch Zeit, um die Gegner in die Schranken zu weisen.

Anlass des Gebets war der Jahrestag der Eroberung des – damals christlichen – Konstantinopel durch die muslimischen Osmanen im Jahr 1453. Heute heiße die Stadt nicht mehr Konstantinopel, doch es gebe Leute, denen das nicht passe, sagte Erdogan. „Das hier ist Istanbul, oder mit anderem Namen: Islam-bol.“ Sich selbst, seine Anhänger und die Türkei als Opfer von Angriffen dunkler Kräfte darzustellen, gehört zu Erdogans Wahlkampf-Klassikern. Vor der Neuwahl in Istanbul wird diese Taktik jetzt gegen Ekrem Imamoglu gerichtet, den siegreichen Kandidaten der Oppositionspartei CHP bei der regulären Wahl am 31. März. Auf Druck von Erdogans Regierungspartei AKP setzte die Wahlkommission die Neuwahl in Istanbul an, mit der Erdogan seinen Kandidaten Binali Yildirim zum Bürgermeister der größten Stadt des Landes machen will.

Erdogans Kandidat liegt in Umfragen hinten

Bisher wollen die meisten Istanbuler dem Präsidenten nicht folgen. Je nach Umfrage liegt Imamoglu zwei bis fünf Prozentpunkte vor Yildirim. Nicht nur Oppositionswähler, sondern auch AKP-Anhänger empfinden die Annullierung der März-Wahl als ungerecht. Gegner Erdogans innerhalb der AKP arbeiten an der Gründung einer eigenen Partei.

Auch die Wirtschaftslage macht es der AKP schwer, ihre Wähler zu begeistern: Die türkische Wirtschaft schrumpfte im ersten Quartal im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 2,6 Prozent, die Inflation liegt bei 19 Prozent. Hinzu kommen Korruptionsvorwürfe gegen Erdogans Partei, die Istanbul seit anderthalb Jahrzehnten regiert. Im Zentrum der Debatte steht derzeit die städtische Parkplatzbehörde Ispark. Yildirim musste einräumen, er verstehe auch nicht, warum Ispark trotz millionenschwerer Einnahmen hohe Verluste macht. Wegen dieser Probleme stilisiert Erdogan den Istanbuler Urnengang jetzt zur Verteidigungsschlacht des Islam gegen einen Ansturm der Christenheit. Ein AKP-Politiker streute das Gerücht, Imamoglu sei griechischer Herkunft. Yildirim besuchte die strenggläubige islamische Bruderschaft Ismailaga, um sich den Segen einer für islamisch-konservative Kreise wichtigen Gruppe zu holen.

Innenminister Süleyman Soylu prangerte einen angeblichen Wirtschaftskrieg des Westens gegen die Türkei an. „Seit anderthalb Jahren wehren wir uns gegen wirtschaftliche Angriffe Amerikas“, sagte Soylu bei einer Begegnung mit Istanbuler Wählern. Die Türkei sei nicht mehr bereit, sich vom Ausland erpressen zu lassen.

Erdogan will die Reihen der AKP-Wähler schließen

Neue Wähler dürfte die AKP mit diesen Parolen nicht gewinnen. Doch darum gehe es Erdogan auch nicht, meint der in den USA lebende Politologe Burak Kadercan: Ziel sei es, „die Reihen zu schließen“ und möglichst viele AKP-Stammwähler zu den Urnen zu bringen, schrieb Kadercan auf Twitter.

Mehrere hunderttausend potenzielle Anhänger der Erdogan-Partei waren bei der Wahl im März zu Hause geblieben; damals gewann Imamoglu mit einem Vorsprung von weniger als 14.000 Stimmen gegen den AKP-Mann Yildirim. Bei der Neuwahl hat für die AKP die Mobilisierung der eigenen Basis deshalb oberste Priorität. Die Partei treibe die Spaltung der Gesellschaft in Anhänger und Gegner Erdogans noch weiter voran, kommentierte Kadercan.

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