"Ein neues Zeitalter" Erleichterung nach Kommmunalwahl in Istanbul

Istanbul · Nach der Kommunalwahl hoffen viele Menschen in Istanbul auf bessere Zeiten. Das Endergebnis der Abstimmung steht noch nicht fest, der Wahlsieg der Opposition ist jedoch greifbar.

 Der Oppositionspolitiker Ekrem Imamoglu (rechts) wird wohl neuer Bürgermeister von Istanbul.

Der Oppositionspolitiker Ekrem Imamoglu (rechts) wird wohl neuer Bürgermeister von Istanbul.

Foto: AFP

Auf dem Taksim-Platz im Herzen von Istanbul gehen am Tag nach der Kommunalwahl die Bauarbeiten an der Pracht-Moschee weiter, mit der die AKP von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan ihren Machtanspruch über die Metropole demonstrieren will. Doch trotz Panzerwagen, Wasserwerfern und Polizeigittern weht spürbar ein neuer Wind über den Platz – ein Hauch von Erleichterung, mit dem Passanten den greifbaren Wahlsieg der Opposition in ihrer Stadt begrüßen.

„Das wurde ja höchste Zeit“, sagt ein Simit-Verkäufer, während er seine Sesamkringel austeilt. „Wir brauchen dringend Veränderung“, pflichtet ihm ein Student bei, der mit seinen 20 Jahren noch keine andere Partei im Rathaus seiner Stadt gesehen hat. „Jetzt beginnt ein neues Zeitalter.“

Am Wahlsieg des Oppositionskandidaten Ekrem Imamoglu wollen viele Menschen auf dem Taksim nicht zweifeln, obwohl sein Vorsprung vor dem AKP-Kandidaten Binali Yildirim hauchdünn ist und das Endergebnis noch nicht feststeht. „Dann sollen sie eben noch einmal wählen lassen, dann gewinnt wieder Imamoglu“, sagt eine Mittfünfzigerin, die von dem Verkaufsstand kommt, an dem die Regierung subventioniertes Gemüse anbieten lässt. „Wir haben es einfach satt, von Erdogan aufeinander gehetzt zu werden“, fügt ihre Begleiterin hinzu. „Freundschaften, Familien, alles macht er kaputt durch seine Polarisierung.“

Niederlage kam für AKP unerwartet

Ein Lichtblick nach langer Dunkelheit sei das Wahlergebnis für ihn, sagt ein Beamter des städtischen Ordnungsamtes, der den Gemüsestand beaufsichtigt. Seit Jahren müsse er täglich mit seiner Entlassung rechnen, weil er gewerkschaftlich organisiert ist – die meisten Kollegen aus der Gewerkschaft seien von der Kommune längst gefeuert worden und teilweise ins Ausland geflohen. Die Freude an der Arbeit und selbst am Leben sei ihm durch den ständigen politischen Druck genommen worden, sagt der 35-Jährige. Deshalb sei dies für ihn ein Freudentag.

Im Rathaus dagegen sei die Stimmung heute „wie in einem Beerdigungsinstitut“, berichtet der Beamte. Für die AKP sei die Wahlniederlage ein schwerer Schlag, denn nach 25 Jahren im Rathaus von Istanbul habe sich die Partei daran gewöhnt, auf Gelder, Personal und Pfründe der Millionenmetropole zugreifen zu können. Deshalb komme es nun darauf an, die Nachzählung der Stimmen mit Argusaugen zu überwachen, um Manipulationen und Schiebung zu verhindern. „Die nächsten drei Tage werden kritisch“, sagt der Mann vom Ordnungsamt.

Für die islamisch-konservative AKP und ihren Chef Erdogan kam die Niederlage in Istanbul unerwartet. Als die Teilergebnisse am Wahlabend den Sieg der Opposition in der Stadt anzudeuten begannen, stoppte die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu plötzlich ihre Berichterstattung – und gab Yildirim damit die Gelegenheit, sich aufgrund des von Anadolu zuletzt noch gemeldeten Vorsprungs von wenigen tausend Stimmen zum Gewinner auszurufen.

Trend gegen die AKP in Großstädten

Amateurhaft und verzweifelt wirkte der Versuch der Regierungsseite, sich gegen die Realität zu stemmen. Am Montagmorgen stellte Sadi Güven, der Leiter der Wahlbehörde YSK, offiziell klar, dass Oppositionskandidat Imamoglu mit fast 30.000 Stimmen in Führung liege.

Der Trend gegen die AKP in den türkischen Großstädten war schon bei Wahlen in den vergangenen Jahren sichtbar. Drei von vier Türken leben heute in Städten, doch die Erdogan-Partei hat keine passenden Antworten auf die drängenden Fragen und Sorgen vieler Menschen dort. In Istanbul ärgern sich auch AKP-Anhänger darüber, dass auch das letzte Stückchen Grün noch zubetoniert wird. Zusammen mit der Wirtschaftskrise – die Arbeitslosigkeit ist auf dem höchsten Stand seit zehn Jahren, während die Inflation und der Kursverfall der Lira die Ersparnisse vieler Menschen auffressen – führte diese Entwicklung zur Niederlage der AKP.

Wahlverlierer Yildirim will sich trotzdem noch nicht ganz mit der Situation abfinden. Er spricht von mehr als 300 000 Stimmzetteln, die in Istanbul für ungültig erklärt worden seien. Er sei bereit, Imamoglu zu einem Sieg zu gratulieren, aber noch sei es nicht so weit.

Imamoglu muss mit Widerständen rechnen

Mit der Macht in Istanbul, Ankara und anderswo hat die AKP in den wichtigsten Bevölkerungszentren die Möglichkeit verloren, ihren Anhängern gute Posten zuzuschustern und regierungsnahe Konzerne und Institutionen mit öffentlichen Geldern zu versorgen.

Deshalb muss Imamoglu mit Widerständen rechnen. Türkische Kommunen hängen am finanziellen Gängelband von Erdogans Regierung in Ankara – „dann sollen sie mal regieren, wir werden ja sehen“, hatte der Staatschef schon am Wahlabend gesagt: Die Bemerkung kann als Drohung verstanden werden. Auch bleiben viele Istanbuler Stadtteilverwaltungen in der Hand der AKP.

Am Gezi-Park stehen Wasserwerfer und Mannschaftswagen bereit, Sicherheitskräfte patrouillieren. Die wenigsten Passanten wollen ihren Namen nennen, doch der Student Erhan Yilmaz hat keine Bedenken. Die AKP habe auch Gutes getan, sagt er: den öffentlichen Nahverkehr in Istanbul, die guten Straßen. „Aber dass sie Politik und Religion vermischt haben, das ist einfach nicht gut“, meint er.

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