Regierungsbildung in Nordrhein-Westfalen Hannelore Kraft : "Es gibt fast nichts zu verteilen"

DÜSSELDORF · Für Wohltaten hat die neue rot-grüne Landesregierung kein Geld in der Kasse. Opposition kritisiert mangelnden Sparehrgeiz.

 Endlich fertig: Grünen-Fraktionschef Reiner Priggen, Grünen-Verhandlungsführerin Sylvia Löhrmann, Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD), und SPD-Fraktionschef Norbert Römer (von links) stellen das Ergebnis der Koalitionsverhandlungen vor.

Endlich fertig: Grünen-Fraktionschef Reiner Priggen, Grünen-Verhandlungsführerin Sylvia Löhrmann, Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD), und SPD-Fraktionschef Norbert Römer (von links) stellen das Ergebnis der Koalitionsverhandlungen vor.

Foto: dpa

Die Vertreter von SPD und Grünen waren gerade beim heiklen Thema Finanzen, als die Zeiger der Uhren kurz vor Mitternacht anzeigten. Da gingen die Türen zum Verhandlungssaal auf, es wurden einige Blumensträuße hereingebracht, und gemeinsam ließ man Ministerpräsidentin Hannelore Kraft zu ihrem 51. Geburtstag hochleben.

Mit Kerzen und Torten groß feiern wollten die bisherigen und künftigen Koalitionäre allerdings zu diesem Zeitpunkt noch nicht, denn schließlich lag noch einiges an Verhandlungsarbeit vor ihnen. Erst rund fünf Stunden später stand das alte und neue Bündnis.

Doch auch da waren noch einige Fragen zu klären, so dass Krafts grüne Stellvertreterin Sylvia Löhrmann am späten Vormittag meinte, die Nacht sei nur 15 Minuten lang gewesen. Die Regierungschefin selbst sprach davon, es habe "gerade noch zum Duschen und Umziehen gereicht".

Trotz der erfolgreichen Verhandlungen schien ihr Adrenalinspiegel aber noch recht hoch, als sie den Koalitionsvertrag vorstellte. Denn bei Nachfragen der Journalisten reagierte sie ein ums andere Mal recht schnippisch - beispielsweise, als sie erklären sollte, wo sie denn im Haushalt 2012 sparen wolle. "Ich führe heute keine Haushaltsverhandlungen", gab sie barsch zurück. Viel lieber sprach sie von dem neuen 195 Seiten starken Vertrag, der die Überschrift trägt: "Verantwortung für ein starkes NRW - Miteinander die Zukunft gestalten."

Und was haben sich SPD und Grüne vorgenommen?

Bis 2020 soll nicht nur im Bund, sondern auch in Nordrhein-Westfalen die Schuldenbremse gelten. Das heißt: Bis dahin will das Land einen Haushalt aufstellen, ohne neue Kredite aufzunehmen. Laut Kraft soll in die Landesverfassung allerdings auch der Zusatz aufgenommen werden, dass die Schuldenbremse nicht zulasten der Kommunen gehen darf.

Der Stärkungspakt Stadtfinanzen soll von 465 auf 660 Millionen Euro aufgestockt werden. Insgesamt könnten die Kommunen seit 2010 ein Einnahmeplus von 815 Millionen verzeichnen. Wohltaten will sich die Koalition nicht leisten. "Es gibt fast nichts zu verteilen", sagte Kraft. Stattdessen wollen die Bündnispartner bis 2017 dauerhaft eine Milliarde Euro einsparen. Helfen soll dabei auch die sogenannte Präventionsrendite.

So erhoffen sich SPD und Grüne erste Erfolge ihrer vorbeugenden Politik. Drei konkrete Bereiche benannten die Partner: den Abbau von Warteschleifen für Jugendliche an der Schnittstelle von Schule und Ausbildung, wodurch 500 Lehrerstellen in den Berufskollegs abgebaut werden könnten, die Vermeidung von Haftstrafen durch Jugendarrest nach pädagogischen Gesichtspunkten und die Forcierung des Modellprojekts "Kurve kriegen", mit dem Intensivtäter wieder besser in die Gesellschaft integriert werden könnten.

In den nächsten 13 Jahren soll nach den Vorstellungen von SPD und Grünen der Ausstoß von Kohlendioxid in NRW um mindestens ein Viertel gesenkt werden. Im Gegenzug haben sich die Koalitionspartner vorgenommen, dass 30 Prozent des Stroms aus Erneuerbaren Quellen kommen sollen, also aus Wind, Sonne, Wasserkraft und Erdwärme. Die Quote der Energieerzeugung mittels Kraft-Wärme-Kopplung soll von derzeit zehn auf mehr als 25 Prozent im Jahre 2020 gesteigert werden.

Um die Versorgungssicherheit zu gewährleisten, würden allerdings auch noch Kraftwerke mit fossilen Brennstoffen benötigt. Hierbei soll der Schwerpunkt auf Gaskraftwerken liegen, heißt es. Nicht festlegen wollte sich Rot-Grün im Hinblick darauf, ob die künftige Landesregierung den Weiterbau der Steinkohlekraftwerke in Datteln und Lünen, gegen die Gerichtsverfahren anhängig sind, aktiv betreiben wird.

Schulministerin Sylvia Löhrmann war am Dienstag eines ganz wichtig. Obwohl SPD und Grüne nun eine eigene Mehrheit haben, stehe auch die neue Landesregierung zum Schulkonsens, sagte sie und fügte hinzu: "Das ist ein Signal an die CDU." Im Frühjahr vorigen Jahres hatten alle drei Parteien gemeinsam den sogenannten Schulfrieden geschlossen. Damit soll es zumindest für eine Schülergeneration keine Schulstrukturdebatten mehr geben.

Nun soll der Konsens Stück für Stück umgesetzt werden. Dazu gehört die Gründung von Sekundar- und Gesamtschulen, die Möglichkeit, auch kleine Grundschulen bestehen zu lassen, die Förderung des Ganztags und die schrittweise Senkung der Klassenstärken.

Über den Abbau der 500 Lehrerstellen in den Berufskollegs hinaus sollen die Schulen keine Pädagogen verlieren, auch wenn es weniger Schüler gibt. Die sogenannten Demografiegewinne sollen zum Beispiel kleinere Lerngruppen ermöglichen. Um behinderten Kindern künftig den Zugang zu Regelschulen zu gewährleisten, will Rot-Grün die Schulen "behutsam umgestalten", wie Löhrmann sagte.

In den Kindertagesstätten soll das Angebot an Betreuungsplätzen ausgeweitet werden, um ab Sommer nächsten Jahres den Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz zu ermöglichen. Es bleibt zunächst bei einem beitragsfreien Kita-Jahr. Ob es ein weiteres geben wird, hängt davon ab, wie sich die Finanzlage im Land entwickelt. Das Hochschulfreiheitsgesetz will Rot-Grün überarbeiten. So sollen die Mitbestimmungsrechte der Studenten und des Mittelbaus gestärkt werden.

Lange war darüber diskutiert worden, ob durch Strukturreformen womöglich Einsparungen bei der Polizei erzielt werden können. Von rund 2000 Stellen hatten die Grünen in den vergangenen Tagen noch gesprochen. Im Koalitionsvertrag steht davon nichts. Frage an die Regierungschefin: "Sind denn die 2000 Stellen vom Tisch?" Nicht einmal ein Wort sagte Kraft dazu. Dennoch war ihr Statement eindeutig: ein Kopfnicken.

Im Bundesrat will sich Nordrhein-Westfalen einsetzen für eine Wiedereinführung der Vermögensteuer, eine "sozial gerechte Reform der Einkommensteuer mit einer Anhebung des Spitzensteuersatzes", wie es im Vertrag heißt, und auch für eine "grundsätzliche Reform der Erbschaftsteuer". Das Ziel sei, "sehr reiche Erben stärker zu besteuern. Auch für eine Finanztransaktionssteuer will sich das Land stark machen. Zudem will die Landesregierung den Missbrauch von Leih- und Zeitarbeit in Berlin zum Thema machen. Sie plädiert darüber hinaus für einen gesetzlichen Mindestlohn von 8,50 Euro pro Stunde.

"Über Personalfragen reden wir heute nicht", sagte die Ministerpräsidentin lapidar, als es um die Frage ging, ob Wirtschafts- und Verkehrsminister Harry Voigtsberger künftig eines der beiden Ministerien übernehme, die aus seinem angestammten Haus hervorgehen. Um der Opposition gleich den Wind aus den Segeln zu nehmen, wollte sie dazu nur eines sagen: Mit der Aufspaltung des Ministeriums würden nur drei Stellen geschaffen: die des Ministers, des Staatssekretärs und des Büroleiters. Die Kosten würden an anderer Stelle in den Häusern erwirtschaftet.

Das Momentum hatte FDP-Landes- und Fraktionschef Christian Lindner auf seiner Seite. Während CDU-Fraktionschef Karl-Josef Laumann noch einen Termin beim früheren Essener Weihbischof Franz Grave hatte, bewertete Lindner schon eine Stunde nach der Vorstellung des Vertrags eben jenen. Sein Fazit: Rot-Grün sei zu wenig ehrgeizig beim Sparen.

Es sei möglich, schon 2017 ohne neue Schulden auszukommen, nicht erst 2020. Das neue Wirtschaftsministerium sei nichts anderes als eine "energiepolitische Resterampe", weil die Grünen auf ihren energiepolitischen Kompetenzen beharrt hätten.

Laumann sprach drei Stunden später von einem "Wohlfühlvertrag", der mit der wirklichen Lage des Landes nicht viel zu tun habe. Für die neue Wahlperiode werde kein Weg zur Einhaltung der Schuldenbremse aufgezeigt. Trotz der höchsten Steuereinnahmen in der Geschichte des Landes wolle sich die Landesregierung für massive Steuererhöhungen einsetzen, kritisierte Laumann.

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