Kommentar zu Jamaika Hart am Abgrund

Meinung · Ohne ein Grundvertrauen in die Partner wird eine solche im Bund bislang nicht erprobte Koalition nicht funktionieren. Dann muss man die Finger davon lassen, kommentiert Holger Möhle.

 Der CSU-Parteivorsitzende Horst Seehofer neben Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Bündnis 90/Die Grünen).

Der CSU-Parteivorsitzende Horst Seehofer neben Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Bündnis 90/Die Grünen).

Foto: dpa

Sie haben sich vier Wochen abgetastet, die Temperatur gefühlt, ersten Schüttelfrost überstanden, Plus und Minus gegeneinander geführt. Nur eine sichere Diagnose, einen politischen Befund, ob es für eine gemeinsame Operation zum Wohle des Landes reicht, können die Jamaika-Akteure noch immer nicht abgeben. Es wird also weiter untersucht, sondiert, genervt.

Wer den Unterhändlern am Freitag nach der ersten Nacht der verpassten Entscheidung zugehört und ihnen in die Augen gesehen hat, kommt an der Einschätzung nicht vorbei: Da wandeln vier Parteien auf ihrer Reise nach Jamaika hart am Abgrund. Es kann gut sein, dass sie am Ende noch zusammenfinden. Aus Gründen der Staatsraison, aus der Einsicht, dass Neuwahlen ihnen kein besseres und auch kein klareres Ergebnis bringen würden.

Ein Scheitern ist gegenwärtig aber auch nicht ausgeschlossen, weil eben doch zum Teil sehr unterschiedliche Welten, Kulturen und Prioritäten zusammengebracht werden müssen. Besonders CSU und Grüne suchen noch ihre Formel – Flüchtlinge, Obergrenze, Familiennachzug, Klima, Kohleausstieg. Alles strittig.

Was Jamaika erschwert, ist die Gefahr erheblicher Beben, die ein Scheitern, aber auch ein Gelingen auslösen könnten. In der CSU wird ein Machtkampf ausschließlich wegen der laufenden Sondierungen in Berlin nicht weiter ausgetragen. Waffenstillstand zwischen Horst Seehofer und Markus Söder.

Bis zum Parteitag Mitte Dezember in Nürnberg. Seehofers politischer Einfluss in der CSU hängt von der Beute ab, die er von Berlin mit nach München bringt. Auch für Angela Merkel könnte es eng werden, wenn Jamaika scheitert. Ob die jungen Wilden in der CDU, die besonders wild auf eigenen Machtzuwachs sind, dann noch stillhalten, ist zweifelhaft. Die Grünen wiederum müssen sich fragen, was von ihnen in vier Jahren übrig bleibt, wenn sie ein schwarz-gelb-grünes Bündnis im Bund riskieren.

Und die FDP weiß irgendwie noch nicht so genau, ob sie sich von Merkel erneut schrumpfen lassen und mit den Grünen einen Lieblingsfeind in der gemeinsamen Koalition buchen soll. Immerhin sind die Liberalen in ihrer Einschätzung der Wahrscheinlichkeit von Jamaika seit Wochen stabil: 50:50.

Tatsächlich sind CDU, CSU, FDP und Grüne in dieser (ersten) Entscheidungsnacht keinen Schritt weiter gekommen. Sie können nicht Ja sagen und wollen noch nicht Nein sagen. Das strapazierte Publikum fragt sich: Wie soll das erst werden, wenn sie gemeinsam regieren? Vier Jahre sind lang, eine Zeit voller (auch unerwarteter) Prüfungen. Ohne ein Grundvertrauen in die Partner wird eine solche im Bund bislang nicht erprobte Koalition nicht funktionieren. Dann muss man die Finger davon lassen. Natürlich können die Jamaikaner das Risiko trotzdem eingehen, aber dann gibt es Neuwahlen eben später.

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