Referenden und langwierige Abstimmungen Kann es zu viel Demokratie geben?

Bonn · Demokratische Prozesse sind wichtig und kosten Zeit. Doch Abstimmungsmarathons oder polarisierende Referenden können die Demokratie auch blockieren.

 Wollte mehr Demokratie wagen: Willy Brandt (links), hier vor Beginn der Koalitionsgespräche am 1. Oktober 1969 mit dem FDP-Vorsitzenden Walter Scheel. Wenige Wochen später war er Bundeskanzler.

Wollte mehr Demokratie wagen: Willy Brandt (links), hier vor Beginn der Koalitionsgespräche am 1. Oktober 1969 mit dem FDP-Vorsitzenden Walter Scheel. Wenige Wochen später war er Bundeskanzler.

Foto: dpa/Peter Popp

Demokratie und Rechtsstaatlichkeit gehören zu den größten Errungenschaften der Menschheit. „Mehr Demokratie wagen“, forderte vor 50 Jahren der erste sozialdemokratische Bundeskanzler Willy Brandt in seiner Regierungserklärung. Zu Recht, wenn damit mehr bürgerschaftliches Engagement oder Teilhabe gemeint ist. Seit es jedoch in Mode gekommen ist, per Votum der Bürger oder Mitglieder wichtige Einzelfragen der Politik oder Personal- und Koalitionsfragen zu entscheiden, hat sich eine gewisse Lähmung breitgemacht.

Fast fünf Monate nahm der Prozess in Anspruch, einen neuen SPD-Vorsitzenden zu finden. Sechs Wochen lang musste der Finanzminister des wichtigsten EU-Landes, Olaf Scholz, als Kandidat durch 23 Regionalkonferenzen tingeln, um sich der Basis zu stellen. Am Ende verlor er, seine Position in der Regierung ist geschwächt, obwohl seine Bilanz als Chef der Staatsfinanzen gar nicht zur Beurteilung anstand.

Die Iren mussten für Lissabon-Vertrag zweimal abstimmen

Doch ohne direkte Befragung der Mitglieder oder Bürger geht inzwischen immer weniger in den westlichen Demokratien. Die SPD ist da nur ein Beispiel. Mehrfach haben französische, niederländische oder irische Wähler die geplante europäische Verfassung oder einzelne EU-Verträge zu Fall gebracht. Oft standen die Gesetzeswerke wie im Fall des Lissabon-Vertrags von 2009 in veränderter Form wieder auf der Tagesordnung. So mussten die Iren zweimal abstimmen, bis der Lissabon-Vertrag in Kraft trat. Ein Mehrgewinn an Demokratie?

Ein besonders krasses Beispiel, wie direkte Demokratie ein etabliertes und bewährtes politisches System demolieren kann, ist die Abstimmung in Großbritannien um den Verbleib in der EU. Es schien der letzte Ausweg für den konservativen Premierminister David Cameron zu sein, um den Streit in seiner Partei über Europa ein für allemal beizulegen. Doch das Nein der Briten zur EU spaltete daraufhin nicht nur die Tories, sondern das gesamte Land.

Brexit-Frage belastet auch Irland

Seit über drei Jahren paralysiert die Frage, wie Großbritannien die EU verlassen kann, die Nation. Die Reform des Gesundheitssystems, die ungerechte Bildungspolitik oder die Vernachlässigung weiter Teile des Landes spielten nur noch eine Nebenrolle. Man kann das wohl kaum eine größere Teilhabe breiter Bevölkerungsschichten an den wichtigen Fragen des Landes nennen.

Unter linken und grünen Parteien ist das Referendum besonders beliebt. In Brandenburg hat die Parteibasis von SPD und Grünen schon über den Koalitionsvertrag mit der CDU abgestimmt, in Sachsen fehlt noch das endgültige Ja von roter und grüner Basis zum Bündnis mit Schwarz. In Brandenburg war es am Ende reine Routine, in Sachsen wird es wohl auch so sein – ohne größere Komplikationen. Aber worin besteht der Gewinn an mehr Demokratie?

Volksabstimmungen gab es in England bisher nicht

Nach einer aktuellen Definition des amerikanischen Politikwissenschaftlers Francis Fukuyama liegt das Wesen der westlichen Demokratie nicht so sehr an der Befassung des Wahlvolks mit allen möglichen Themen, Vorhaben oder Gesetzen. Es liegt darin, dass die gewählten Politiker am Ende ihrer Amtszeit Rechenschaft ablegen. Dann ist der Wähler am Zug, einem Politik-Paket, das aus Inhalten und Personen besteht, ein neues Mandat zu erteilen.

Das britische System hat trotz aller Unzulänglichkeiten seines Wahlsystems über Jahrhunderte den größten politischen und wirtschaftlichen Krisen getrotzt. Volksabstimmungen waren diesem System wesensfremd. Selbst bei genau umrissenen Fragestellungen wie dem Bau des Bahnhofs Stuttgart 21 bringt eine Entscheidung der Bürger nur bedingt Rechtsfrieden. Nach dem Nein der Wähler zum Ausstieg aus dem Projekt haben die steten Kostensteigerungen und deren Verschleierung durch die Bahnführung die Diskussion um ein zweites Referendum erneut angeheizt.

Die Demokratisierung vieler Entscheidungsprozesse nimmt also nicht nur viel Zeit in Anspruch, sondern trägt nur wenig zur schnelleren und umfassenderen Lösung der Probleme bei. Hinzu kommt, dass der Einzelne ein praktisch vernachlässigbares Stimmengewicht hat. Ökonomen bezeichnen das als Wahlparadoxon: Obwohl der Einzelne bei seiner Entscheidung nichts gewinnt, geht er zur Wahl – weil er meint, dass seine Stimme wichtig ist.

Das Wahlparadoxon ist nicht unbedingt ein Argument nur gegen direkte Demokratie, sondern ist auch bei Wahlen zu repräsentativen Parlamenten anwendbar. Man sollte es deshalb nicht zu ernst nehmen. Aber es begrenzt den Nutzen einer breiten Demokratisierung von Entscheidungen. Am Ende gewinnt der Einzelne dadurch so gut wie nichts.

Bei Müllkonzept kann ein Referendum sinnvoll sein

Natürlich kann es in genau definierten Einzelfällen durchaus sinnvoll sein, über Themen wie das Bienensterben oder ein Müllkonzept per Referendum abzustimmen. Es sollte gleichwohl die Ausnahme bleiben. Man kann umgekehrt sogar den gewählten Politikern den Vorwurf machen, dass sie auf medial aufgeheizte Einzelthemen wie Migration oder Klimaschutz übermäßig reagieren und sich damit etwas der Verantwortung entledigen. Das Ergebnis ist dann keine angemessene Problemlösungsstrategie, sondern sind schnelle Aktionen, die solange anhalten, wie das Thema öffentlich diskutiert wird.

Demokratie ist ein komplizierter Prozess. Die große Debatte, das Interesse breiter Bevölkerungsteile und die Befassung der wichtigen Themen durch die Organe der repräsentativen Demokratie gehören dazu. Auch die eine oder andere Abstimmung zu konkreten Fragestellungen ist Teil dieses Systems.

Die Demokratisierung wichtiger Personalbeschlüsse durch eine Urwahl oder auch kaum zu überschauender Grundsatzentscheidungen läuft dem bewährten Prinzip der Verantwortungsdemokratie zuwider. Hier ist ein breites Angebot, das die Parteien den Wählern als Paket vorlegen, dem hektischen Auf und Ab der Stimmungsdemokratie überlegen.

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