Hinrichtung im US-Bundesstaat Texas Keine Gnade für Marvin Wilson

WASHINGTON · Er konnte schreiben, rechnen und lesen wie ein Sechsjähriger, bestenfalls. Sein Grundverständnis von dieser Welt war laut eines neuropsychologischen Gutachtens "intellektuell behindert". Trotzdem musste Marvin Wilson im Gefängnis von Huntsville/Texas sterben.

Im hinrichtungsfreudigsten Bundesstaat der USA (484 Fälle seit 1982) werden selbst geistig Behinderte exekutiert. Amnesty International und andere Bürgerrechts-Organisationen sehen darin eine "barbarische Menschenrechtsverletzung" und einen Fall von "juristischer Schizophrenie".

Der Reihe nach: Das oberste US-Bundesgericht in Washington hatte 2002 in der Sache "Atkins versus Virginia" das Töten von geistig Zurückgebliebenen in den US-Gefängnissen für verfassungswidrig erklärt. Damalige Begründung: Es gebe inzwischen einen "landesweiten Konsens" darüber, dass solche Hinrichtungen als "grausame und ungewöhnliche Form der Bestrafung" abzulehnen sind, weil die Täter sich der Tragweite ihres Tuns nicht bewusst gewesen seien. Konkreter Auslöser: Ein damals 18-Jähriger hatte einen Mann entführt und ermordet. Der Täter wies einen Intelligenzquotienten von 59 auf, normal sind 85 bis 115.

Nach dem mit 6:3 Richterstimmen ergangenen Spruch des Supreme Courts glaubten Befürworter, damit sei die internationale weithin anerkannte Grenzmarke von 70 auch US-weit bindend. Wer einen darunter liegenden Intelligenzquotienten aufweist, kommt nicht in den Todestrakt. Bis dahin hatten sich lediglich Japan, Kirgistan und eben die USA nicht daran gehalten.

Wie falsch diese Annahme war, zeigte sich am Montagabend um 18.27 Uhr Ortszeit in Huntsville, als das Gift im Körper von Marvin Wilson zu wirken begann. Mit den Worten "Ihr werdet alle sehen, ich kam als Sünder und gehe als Heiliger" verabschiedete er sich von dieser Welt.

Möglich war dies, weil der Supreme Court es den Bundesstaaten 2002 überlassen hatte, den Faktor geistige Behinderung individuell zu interpretieren. Im Fall Wilson ignorierte die texanische Justiz das Gutachten eines amtlich bestellten Psychiaters, der 2004 den IQ des Häftlings auf 61 festgelegt hatte. Tenor der Erklärungen der Staatsanwälte und Richter: Wilson sei "manipulativ" und "eigensinnig" und habe sich im Test bewusst dumm gestellt. Rund um die Tat - er ermordete im November 1992 in der Nähe von Houston im Laufe eines Drogen-Geschäfts den 21-jährigen Polizeispitzel Jerry Williams - habe Marvin Wilson berechnend und klar gewirkt.

Wilsons Anwalt Lee Kovarsky hält das für pure Willkür. "Der Staat von Texas blendet wissenschaftliche Richtlinien aus und unterläuft das oberste Gericht so drastisch, dass so gut wie kein zum Tode verurteilter Kandidat der Giftspritze entgehen kann." Dass der Supreme Court in Washington in letzter Minute einen Aufschub der Hinrichtung ablehnte, nennt Kovarsky "sehr, sehr traurig" und verweist auf einen ähnlichen Fall in Georgia.

Im Nachbar-Südstaat sollte der Mörder Warren Hill (Intelligenzquotient 70) bereits Mitte Juli exekutiert werden. Nach internationalen Protesten und Einspruch des Todeskandidaten legte der höchste Gerichtshof des Bundesstaates die Entscheidung auf Eis.

Wiederum ganz anders wurde ein spektakulärer Fall in Arizona gehandhabt, der Anfang 2011 weltweit Schlagzeilen gemacht hatte. Jared Lee Loughner tötete damals auf dem Parkplatz eines Einkaufszentrums bei Tucson sechs Menschen und verletzte zwölf weitere schwer. Die frühere Kongressabgeordnete Gabby Giffords wurde am Kopf getroffen. Ihr Überlebenskampf und die immer noch zäh verlaufende Heilung bewegen bis heute die ganze Nation.

Später wurde bekannt, dass Loughner schizophren ist. Würde er verhandlungs- und verurteilungsfähig sein? Käme bei ihm ein Schutz vor der Todesstrafe in Betracht? Nach monatelanger medizinischer Behandlung wurde Loughner am Montag vom zuständigen Richter Larry Burns für zurechnungsfähig erklärt. Loughner bekannte sich schuldig. Die Staatsanwaltschaft verzichtete auf die Todesstrafe.

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