Lage in der Ostukraine Kiew verliert immer mehr die Kontrolle

SLAWJANSK · In der Grünanlage vor dem Rathaus von Slawjansk stehen drei ukrainische Schützenpanzer: Fahrzeuge übergelaufener ukrainischer Soldaten, so die schwer bewaffneten Kämpfer, die sie bewachen.

Ein prorussischer Aktivist spielt bei Kramatorsk mit seinem Sohn auf einem ukrainischen Panzer.

Foto: dpa

Einer von ihnen sagt, er heiße Roman, komme aus Rjasan in Russland, habe vorher zwei Monate auf der Krim verbracht, um angeblich drohende Angriffe westukrainischer Radikaler abzuwehren. "Ich habe sofort gekündigt, wir sind zu fünft in ein Taxi gestiegen und dort hingefahren", erzählt er. Vorher habe er gedient, bei einer Spezialeinheit, auch in Tschetschenien. "Jetzt beschützen wir die friedliche Bevölkerung hier."

Das 100 .00-Seelenstädtchen Slawjansk ist zum Epizentrum der Unruhen in der Ostukraine geworden. Seit Tagen hagelt es weltweit Meldungen von ukrainischen Truppenbewegungen, heftigen Gefechten und einem bevorstehenden Großangriff auf Slawjansk, dessen Polizei- und Geheimdienstzentrale vergangenen Samstag von prorussischen Kampftruppen besetzt wurden. Tatsächlich ist die Lage in Slawjansk und der gesamten Ostukraine gespannt, aber keineswegs so wirr wie die Nachrichtenlage.

Gestern überredete nach Augenzeugenberichten eine prorussische Menge bei Kramatorsk, 20 Kilometer südlich von Slawjansk, eine Abteilung ukrainischer Fallschirmjäger mit 15 Schützenpanzern, ihre Schusswaffen abzugeben. Am Vortag wurden bei einer Schießerei auf dem Militärflughafen von Kramatorsk zwei prorussische Aktivisten verletzt.

Bei der Stadt Isjum, etwa 50 Kilometer nördlich, tauchte eine weitere Kolonne ukrainischer Schützenpanzer auf. Aber bis auf einige tief fliegende ukrainische Militärhubschrauber bleiben die Regierungstruppen passiv. Offene Kämpfe gibt es bisher nicht.

Gestern erstürmten die Separatisten auch das Rathaus der Gebietshauptstadt Donezk. Ohne nennenswerten Widerstand. Die prorussische "Volksrepublik Donezk" kontrolliert auch das Gebietsverwaltungsgebäude in Donezk. Außerdem halten ihre teilweise schwer bewaffneten Kämpfer nach Angaben der Nachrichtenagentur Unian auch die Rathäuser der Städte Mariupol, Makejewka, Schdanowka, die Rathäuser und Polizeiwachen in Jenikajewka und Kramotorsk, außerdem die Polizeiwachen von Gorlowka.

Die Meldungen über die Machtverhältnisse in vier anderen Städten widersprechen einander. Insgesamt wehen die Flaggen der "Volksrepublik" bisher nur in acht bis zwölf von 52 Städten. Aber diese liegen auf einer geografischen Linie, die die Region komplett von Süden nach Norden zerschneidet und gegenüber der westlicheren Ukraine abschirmt.

Dazu halten die Separatisten auch die Geheimdienstzentrale in Lugansk, der Hauptstadt der östlichen Nachbarregion. "Unsere Grenze zu Russland ist ein großes, kaum kontrolliertes Loch", sagt ein hoher Lugansker Regionalbeamter unserer Zeitung. Seinen Namen will er nicht nennen. Viele Beobachter glauben, Lugansk diene den Aufständischen der Donezker "Front" als Basis und Brücke für Nachschub aus Russland.

Noch gibt es proukrainische Kräfte, die zu entschlossenem Widerstand bereit sind. Heute wollen patriotische Aktivisten in Donezk eine Massendemonstration für die Einheit der Ukraine abhalten. Und German Pristupa, der stellvertretende Polizeichef von Gorlowka, erklärt, er verfüge über ausreichend Beamte, die bereit seien, die von den Separatisten gestürmte Polizeiwache zurückzuerobern. "Wenn es nur den Befehl dazu gäbe."

Jegor Firsew, Gebietsvorsitzender der Klitschko-Partei "Udar", befürchtet, es mangele der Zentralgewalt nicht nur am Willen, sondern auch an Mitteln, an Soldaten und Technik, um militärisch gegen die Besetzer in der Region Donezk vorzugehen. "Aber wenn aus Kiew in nächster Zukunft keine massive Reaktion kommt, wird die Region Donezk bald russisch sein."

Roman aus Rjasan sagt, er und seine Kameraden würden bis zur Volksabstimmung über eine unabhängige Republik Donezk in Slawjansk stehen. "Dann fahren wir für eine Woche nach Hause. Und danach geht es nach Charkow.

Dort lebt das Volk ja auch unter der Drohung vorgehaltener Gewehrläufe." Charkow ist die nordwestliche Nachbarregion von Donezk, dort hatten die Separatisten bisher wenig Einfluss.