Kommentar zur Flüchtlingsdebatte Konflikte aushalten

Meinung · Langsam zieht Realismus in die Flüchtlingsdebatte ein. Das ist ganz offenkundig ein schmerzhafter Prozess, aber er ist notwendig, und er ist noch lange nicht zu Ende. Wir müssen uns auf Jahre einstellen, bis die verlorene Stabilität sich wieder einstellt, an deren Verschwinden viele Menschen derzeit leiden.

Wir werden uns von ein paar liebgewordenen Dingen verabschieden müssen. Denn die Integration von ein paar Hunderttausend Menschen verändert natürlich auch das aufnehmende Land. Wer glaubte, dass es genügen würde, ausreichend Schlafplätze, Kleidung, Essen und Sprachkurse zu organisieren, muss erkennen, dass die Sache viel komplizierter ist und echte Opfer erfordert. Natürlich kommen bei solchen Fluchtwellen nicht nur die Netten, Intelligenten und Fleißigen. Wenn sich Millionen auf den Weg machen, sind selbstverständlich auch die Kriminellen, die Geschäftemacher und politische Extremisten unterwegs. Es wäre naiv anzunehmen, dass es im Fall der aktuellen Zuwanderung anders sein sollte. Mit den Menschen kommen ihre Konflikte, ihre guten und schlechten Eigenschaften ins Land.

Die Politik reagiert routiniert mit Reflexen. Sie fordert schärfere Gesetze und konsequentere Anwendung der bestehenden. Sie versucht zu sortieren, was Aufgaben der Polizei, der Justiz oder der Verwaltung ist, sie sucht Bündnispartner und bemüht sich, überhaupt so etwas wie Ordnung in das Chaos der zurückliegenden Monate zu bringen. Sie bemüht sich um Kanalisierung der Konflikte und um Lösungen. Das muss so sein, denn einen anderen Weg, die Themen der Zuwanderung zu bearbeiten - die guten und die schlimmen - gibt es nicht.

Aber genügen wird das eben nicht, denn viele der anstehenden Probleme werden sich nur gesellschaftlich lösen lassen. Das wird nicht schnell gehen, Integration braucht Zeit, vermutlich sehr viel Zeit. Deutschland mag ja kein Problem haben, den Flüchtlingszustrom materiell zu bewältigen. Das Land ist reich, Staat und Gesellschaft sind funktionsfähig und kümmern sich. Die Frage lautet aber vielmehr, ob wir das aushalten? Deutschland muss den Umgang mit den neuen Konflikten erst lernen und es muss lernen, dabei gelassen zu bleiben. Kompromisse werden in Zukunft weit schmerzhafter sein als bisher, wenn das Land seine Freiheit und seine offene Gesellschaft erhalten will.

Wenn wir alle den Pfad der Rationalität verlassen und uns von Hysterie und Angst leiten lassen, drohen schwerere Verwerfungen. Auch in der hiesigen Gesellschaft gibt es militante Islamhasser, gewaltbereite Hooligans oder Rechtsradikale, die sich über jeden Vorwand zum Losschlagen freuen. Stabilität kehrt nur dann wieder ein, wenn sich die Mehrheit einig ist, Konflikte friedlich, rational und aus der Position der Mitte zu lösen. Ohne diesen Konsens schafft Deutschland die große Herausforderung nicht.

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