Interview „Man muss für seine Positionen kämpfen“

Der CDU-Europaabgeordnete Herbert Reul über die Krise der EU, den neuen Nationalismus und die Türkei.

 Wie europäisch sind die Europäer? Eine Besuchergruppe vor dem europäischen Parlament in Brüssel.

Wie europäisch sind die Europäer? Eine Besuchergruppe vor dem europäischen Parlament in Brüssel.

Foto: picture alliance / dpa

War 2016 ein „annus horribilis“ für Europa, ein schreckliches Jahr?

Herbert Reul: Mit dem Wort schrecklich bin ich zurückhaltend. Richtig ist aber: Wir sind in Europa in einer angespannten Lage. Angesichts der vielen Krisen geht es nicht mehr ums Erbsenzählen, sondern um die Frage: Wie können wir die EU stabilisieren oder bleibt sie auf der Strecke? Ich merke die Anspannung übrigens auch in der Reaktion der Bürger: Bei Veranstaltungen zu europäischen Themen sind die Säle voll, es gibt ein neues politisches Interesse. Es ist wirklich verrückt: Auch mir macht Politik gerade Spaß wie lange nicht.

Warum sind im Moment die Nationalisten in vielen europäischen Staaten wieder so erfolgreich?

Reul: Drei Punkte: In einigen Staaten gibt es objektiv wirtschaftliche Probleme, es geht den Leuten schlecht. Menschen in Not neigen eher dazu, radikale Lösungen zu suchen. Zweitens ist es die Vielzahl der derzeitigen Krisen, die vielen Menschen Angst macht: die Finanzkrise, die Ukrainekrise, die Flüchtlingskrise und so weiter. Das beunruhigt viele Menschen.

Und der dritte Punkt?

Reul: Ich glaube nicht, dass man die Populisten und Nationalisten bekämpfen kann, wenn man auf ihrer Welle surft. Man muss stattdessen für seine Positionen kämpfen, man muss seine Standpunkte verteidigen. Es gibt im Moment zu wenige Spitzenpolitiker in Europa, die das tun. Außer Angela Merkel fällt mir da niemand ein.

Warum gibt es besonders in vielen osteuropäischen Ländern eine Wiederkehr des Nationalismus?

Reul: Ich würde zuerst hinterfragen, ob das tatsächlich so ist. In Polen gehen Zehntausende gegen die Regierung auf die Straße und bekennen sich zu Europa.

Trotzdem hat die regierende nationalistische PiS unbestritten starken Rückhalt in der Bevölkerung...

Reul: Stimmt. Aber für den neuen Nationalismus in den osteuropäischen Staaten ist teilweise auch die EU selbst verantwortlich. Richtig Fahrt aufnehmen konnten die Nationalisten dort erst, als die EU-Innenminister per Mehrheitsvotum eine Flüchtlingsquote für die EU beschlossen. Diesen Beschluss haben die Länder als Bevormundung aufgefasst. Der ungarische Ministerpräsident Orban hat diese Stimmung ausgenutzt und eine Anti-Brüssel-Front organisiert.

Glauben Sie, dass die nationalistischen Parteien bei den Wahlen in den Niederlanden und Frankreich weiter zulegen können?

Reul: Schwer zu sagen. Schlüsselereignisse wie zum Beispiel Terroranschläge können Wahlergebnisse in diesen Zeiten stark beeinflussen. Ich glaube aber nicht, dass Front-National-Chefin Marine Le Pen in Frankreich Präsidentin wird.

Auch dass Donald Trump in den USA gewinnen könnte, hat niemand geglaubt. Was passiert denn, wenn Le Pen französische Präsidentin wird?

Reul: Dann wüsste ich auch nicht, wie es für Europa weitergeht. Ein großes europäisches Kernland auf Konfrontationskurs zur EU... Ich bin zuversichtlich, dass es anders kommt.

Ist ein Grund für die Schwäche der EU nicht auch, dass sie sich von der Lebenswirklichkeit der Bürger so weit entfernt hat? Das fängt schon bei der Sprache der Eurokraten an...

Reul: Es stimmt, dass die Abläufe, Sprache und die Themen auf EU-Ebene generell weiter von den Leuten weg sind als die in ihrem Stadtrat. Aber sobald man bei Veranstaltungen über Dinge spricht, die die Bürger direkt betreffen, kommen die Bürger und sind interessiert.

Befasst sich Europa zu sehr mit dem Regelungs-Kleinklein vom Wasserkocher bis zur Glühbirne?

Reul: Wenn wir einen Binnenmarkt haben wollen, müssen wir die Dinge vereinheitlichen. Aber es stimmt: Wir haben uns viel zu sehr mit solchen Themen beschäftigt, Regulierungen, Ge- und Verbote. Das nervt viele Bürger und sie glauben, wir hätten nichts anderes zu tun. Wir müssen die Leute überzeugen, dass wir uns mit den wichtigen Problemen befassen und sie lösen, pragmatisch und realistisch, und auch sagen, wenn etwas nicht so gut läuft.

Die europäische Einigung hat lange als Friedensprojekt funktioniert. Aber damit überzeugen Sie nachwachsende Generationen nicht mehr. Braucht Europa eine neue ideelle Begründung?

Reul: Stimmt. Wenn man jungen Leuten vom europäischen Friedensprojekt berichtet, gucken sie, als würde der Opa vom Krieg erzählen. Europa braucht eine neue Erzählung.

Die wäre?

Reul: Zum Beispiel die, dass 80 Millionen Deutsche nicht zu glauben brauchen, sie könnten in einer globalisierten Welt mit bald neun Milliarden Menschen alleine etwas ausrichten – was ihre Werte und ihren Wohlstand angeht. Der Rest der Welt ist jung, dynamisch, hoch interessiert, nach vorne zu kommen und nicht blöd. Wenn wir 500 Millionen Europäer es nicht schaffen, uns zu organisieren, werden wir untergehen.

Da ist das transatlantische Freihandelsabkommen TTIP ein exemplarisches Beispiel...

Reul: Vollkommen richtig. Wir haben es nicht geschafft, die Vorteile des Abkommens deutlich zu machen, während die TTIP-Gegner eine hervorragende und überaus professionelle Kampagne aufgezogen haben. Wir haben uns von denen schlachten lassen. Aber gegen etwas zu sein ist natürlich immer leichter, als für ein Projekt einzutreten. Ich glaube, wir müssen gar nicht lange warten, und die Regeln für den internationalen Handel werden dann nicht mehr von uns gemacht, sondern im pazifisch-asiatischen Raum, und wir werden uns danach zu richten haben.

Thema Türkei: Müsste die EU sich nicht ehrlich machen und die Verhandlungen über einen Beitritt beenden? Es weiß doch jeder, dass die Türkei der EU in diesem Leben nicht mehr beitreten wird.

Reul: Da hätte ich kein Problem mit. Ich wollte nie, dass die Türkei EU-Mitglied wird. Aber ich habe auch kapiert, dass wir die Flüchtlingsfrage nur in Zusammenarbeit mit unseren Nachbarn lösen können. Und zu denen gehört die Türkei. Es ist also klug, mit der Regierung in Ankara zusammenzuarbeiten, was mir, zugegeben, mit der politischen Führung dort extrem schwer fällt.

Also? Abbruch der Verhandlungen?

Reul: Man hat zurzeit den Eindruck, Präsident Erdogan würde das geradezu herausfordern. Den Gefallen sollten wir ihm also nicht tun.

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