Stellvertretende SPD-Bundesvorsitzende im Interview Manuela Schwesig: "Das Betreuungsgeld ist ungerecht"

BONN · Mehr Kita-Plätze statt Betreuungsgeld: Die stellvertretende SPD-Bundesvorsitzende und Sozialministerin aus Mecklenburg-Vorpommern, Manuela Schwesig, fordert mehr Geld für Kinderbetreuung und Bildung. Die Einnahmen dafür sollen unter anderem durch einen höheren Spitzensteuersatz erzielt werden. Mit Schwesig sprachen Raimund Neuß, Delphine Sachsenröder und Andreas Tyrock.

Ist Deutschland ein familienfreundliches Land?
Manuela Schwesig: Nein. Wer Kinder hat, erlebt die Defizite jeden Tag. Gerade bei der Vereinbarkeit von Beruf und Familie befinden wir uns im Vergleich zu anderen Ländern wie Schweden oder Frankreich im Mittelalter. Wir brauchen dringend mehr Ganztags-Kitas und -Schulen. Aber Familien haben es nicht nur im Arbeitsleben schwerer. Kinder sind in unserer Gesellschaft nicht immer erwünscht. In Italien gehören lachende Kinder in Restaurants ganz einfach dazu, hier ernten sie böse Blicke vom Nachbartisch. Neben den Kindern ist die Pflege von älteren Angehörigen ein wichtiges Thema für Familien, um das sich die Politik dringend kümmern muss.

Dabei gibt Deutschland bereits mehr als alle anderen Industrieländer für die Familienförderung aus.
Schwesig: Deutschland investiert zwar viel Geld in seine Familienpolitik, aber an den falschen Stellen. Es fehlt nicht nur die ausreichende Infrastruktur in Schulen und Kitas, sondern auch die Qualität der Kinderbetreuung und Bildung muss weiter gesteigert werden. Wir Eltern wollen keine Aufbewahrung unserer Kinder, sondern einen echten Bildungsplatz mit gut qualifiziertem Fachpersonal. Für eine ausreichende Versorgung mit Ganztags-Plätzen an Schulen und Kitas müsste Deutschland noch einmal rund 20 Milliarden Euro investieren. Mit einem Ruck ist das nicht zu schaffen. Wir wollen bis 2020 stufenweise den flächendeckenden Ausbau von Ganztagsangeboten inklusive Rechtsanspruch.

Wie wollen Sie den Ausbau finanzieren?
Schwesig: In einem ersten Schritt fordern wir, das auf Kosten von rund zwei Milliarden Euro im Jahr veranschlagte Betreuungsgeld zu kippen und das Geld in den Ausbau von Kitas und Ganztagsschulen zu investieren. Gerade in Nordrhein-Westfalen wird jeder Euro für den Kitaausbau gebraucht. Das Angebot von Betreuungsplätzen für Kinder unter drei Jahren ist in der Regierungszeit von Hannelore Kraft von 14 auf 33 Prozent eines Jahrgangs gestiegen. Die Nachfrage wird aber weiter steigen, vor allem in Städten. Frauen haben heute eine bessere Ausbildung als je zuvor. Die meisten wollen und müssen arbeiten.

Vom Betreuungsgeld sollen diejenigen Eltern profitieren, die ihre Kleinkinder selbst betreuen. Warum soll das falsch sein?Schwesig: Jede Familie soll das für sie richtige Modell wählen können. Im Moment ist die Situation so, dass zwar, sofern das Einkommen es erlaubt, ein Elternteil zu Hause bleiben kann. Wollen jedoch beide Eltern arbeiten, fehlen Betreuungsmöglichkeiten, die ihnen das ermöglichen. Dazu kommt: Das Betreuungsgeld ist ungerecht. Es soll nach Angaben der Regierung die Erziehungsleistung der Eltern honorieren. Aber auch Eltern, die ihre Kinder betreuen lassen, geben die Erziehungsverantwortung nicht an der Kita-Tür ab.

Eltern, die zu Hause bleiben, um ihre Kinder zu betreuen, verdienen allerdings kein Geld.
Schwesig: Diese Verdienstausfälle haben auch Frauen, die Teilzeit arbeiten und ihr Kind in einer Kita betreuen lassen. Mit dem Betreuungsgeld gaukeln CDU und CSU den Frauen etwas vor: Das Problem ist doch nicht nur der Verdienstausfall in den ersten drei Lebensjahren des Kindes. Das Problem ist, dass der Wiedereinstieg in den Beruf immer schwieriger wird und es zu dauerhaften Einkommenseinbußen kommt, die sich bei der Rente massiv auswirken. Außerdem hat das Betreuungsgeld uns in eine gesellschaftliche Diskussion zurückgeführt, die ich eigentlich für längst überwunden gehalten habe.

Welche?
Schwesig: Die ideologischen Kämpfe zwischen den angeblich karrieregierigen Rabenmüttern und vermeintlich faulen Hausfrauen sind für mich als in Ostdeutschland aufgewachsene Frau schon sehr befremdlich. In Ostdeutschland empfinde ich meinen Alltag als berufstätige Mutter als viel selbstverständlicher. In Westdeutschland haben viele berufstätige Frauen es noch schwer, gegen Vorurteile anzukämpfen. Mit dem Betreuungsgeld ist es für sie noch einmal schwerer geworden.

Auch in der Koalition stehen nicht alle hinter dem Betreuungsgeld und auch die Regierung will die Ganztagsbetreuung ausbauen sowie die Pflege verbessern. Was will die SPD besser machen?
Schwesig: Schwarz-gelb hat bisher nichts dergleichen getan. Die SPD setzt auf einen sozialen Ausgleich. Vor allem für Bildung fehlt das Geld. Deshalb wollen wir den Spitzensteuersatz ab einem individuellen zu versteuernden Einkommen von 100.000 Euro auf 49 Prozent erhöhen. Das betrifft nur die oberen fünf Prozent der Steuerzahler.

Der Spitzensteuersatz ist das eine, aber wo genau beginnt für den Steuerzahler die Mehrbelastung?
Schwesig: Etwa bei einem Single-Einkommen von 70.000 Euro pro Jahr. Der Single zahlt im Monat dann 2,83 Euro mehr Steuern.

Warum lehnen Sie das Familiensplitting ab, bei dem Kinder stärker in die Steuerberechnung einfließen?
Schwesig: Vom Familiensplitting würden hauptsächlich Gutverdiener profitieren. Das lehnen wir ab. Außerdem ist die Umsetzung mit geschätzten zehn Milliarden Euro zu teuer.

Die SPD will auch das Ehegattensplitting abschaffen und die Kinderfreibeträge kappen. Das würde alle Familien treffen.
Schwesig: Nein, nur wenige. Derzeit erhalten Gutverdiener durch den Kinderfreibetrag bis zu 100 Euro mehr Kindergeld als Normalverdiener. Wir wollen den Freibetrag lediglich so angleichen, dass alle Eltern den gleichen Betrag von 184 Euro Kindergeld im Monat erhalten. Das Ehegattensplitting wollen wir für zukünftig geschlossene Ehen in seiner jetzigen Form abschaffen, da es kinderlose Ehepaare zum Teil besser stellt als Familien. Wir fordern eine Individualbesteuerung mit Partnerschaftstarif, der die Unterhaltsverpflichtungen von Ehepartnern - auch gleichgeschlechtlichen - berücksichtigt. Die Steuervorteile sollen jedoch deutlich geringer als beim derzeitigen Ehegattensplitting ausfallen.

Gutverdiener erhalten auch beim Elterngeld, das in den ersten 14 Lebensmonaten eines Kindes gezahlt wird, deutlich mehr als Bezieher kleinerer Einkommen - bis zu 1800 Euro im Monat. Finden Sie das gerecht?
Schwesig: Am Elterngeld wollen wir nichts ändern. Im Gegensatz zum Kindergeld geht es hier um das Leistungsprinzip. Die Eltern, die viel Elterngeld bekommen, haben auch vorher hohe Steuern gezahlt. Nur mit der Höhe des Elterngeldes können sich Eltern die Zeit in diesen 14 Monaten auch nehmen. Aber wir wollen den partnerschaftlichen Gedanken des Elterngeldes weiter stärken und es etwa ermöglichen, dass beide Eltern 14 Monate lang gleichzeitig Elterngeld beziehen und in Teilzeit arbeiten.

Was muss sich in der Arbeitswelt für Familien ändern?
Schwesig: Bisher wurde immer mehr Flexibilität von den Müttern und Vätern gefordert, etwa von Verkäuferinnen bei den längeren Ladenöffnungszeiten. Jetzt ist es Zeit, dass auch einmal die Arbeitgeber flexibel auf die Bedürfnisse von Familien reagieren.Viele junge Paare hätten gerne Kinder, sehen aber keine Chance. Wenn Frauen und Männer keine langfristige berufliche Perspektive haben, sondern sich von Praktika zu befristeten Stellen hangeln, fehlt ihnen die Sicherheit, um eine Familie zu gründen. Die befristete Beschäftigung wirkt in diesem Fall stärker als die Pille und muss wieder zur Ausnahme werden. Außerdem brauchen wir einen flächendeckenden Mindestlohn von 8,50 Euro pro Stunde, damit sich die Menschen Kinder überhaupt leisten können.

Aber ein flächendeckender Mindestlohn lässt außer acht, dass auch die Lebenshaltungskosten innerhalb Deutschlands sehr unterschiedlich sind.
Schwesig: Die Billiglöhne haben etwa in Mecklenburg-Vorpommern keinen Aufschwung gebracht. Auch Unternehmer sprechen sich hier für den Mindestlohn aus, weil sie sonst keine auskömmlichen Löhne zahlen können, ohne bei den Preisen von der Konkurrenz unterboten zu werden. 8,50 Euro sind die untere Haltelinie, regionale Unterschiede können durch Lohnanpassungen nach oben ausgeglichen werden.

Wie schwer tut sich die SPD heute mit den Folgen der Agenda 2010?
Schwesig: Das Thema ist heute innerhalb der SPD weniger kontrovers als es offenbar von außen erscheint. Für mich sind das rückwärtsgewandte Debatten. Es ist richtig, dass wir die Ergebnisse der Agenda 2010 überprüft haben und auch Verbesserungen vorschlagen. Deshalb stellen wir aber nicht die ganze Agenda in Frage.

Zur Person

Manuela Schwesig (38) hat in der SPD in kurzer Zeit Karriere gemacht. Die Diplom-Finanzwirtin ist 2003 in die Partei eingetreten und war zunächst in der Schweriner Kommunalpolitik aktiv. 2005 trat sie in den SPD-Landesvorstand Mecklenburg-Vorpommern ein, 2008 wurde sie in dem Bundesland Sozialministerin. Seit 2009 ist die verheiratete Mutter eines Sohnes - der seit seinem 15. Lebensmonat eine Kita besucht - stellvertretende SPD-Bundesvorsitzende.

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