2. UN-Erdgipfel in Rio de Janeiro Menschheit in der Falle

Eine Grüne Wirtschaft soll die Ökosysteme entlasten, aber die Staaten bleiben vom Wachstum abhängig.

 Verpuffte Energieeffizienz: Ein Auto rollt heute mit einem Liter Benzin rund 50 Prozent weiter als 1970, aber die Fahrzeugzahl hat sich weltweit verdoppelt.

Verpuffte Energieeffizienz: Ein Auto rollt heute mit einem Liter Benzin rund 50 Prozent weiter als 1970, aber die Fahrzeugzahl hat sich weltweit verdoppelt.

Foto: dpa

Kann man in drei Tagen die Welt retten? Wohl kaum, auch wenn das viele der 50.000 Teilnehmer des 2. UN-Erdgipfels in Rio de Janeiro hoffen. Hier wird ab heute nachhaltiges Wirtschaften durch die Green Economy das große Thema sein. Ein kleines war es bereits vor 20 Jahren beim 1. Rio-Erdgipfel. Seitdem wurde das Wörtchen "nachhaltig" zwar zum Modewort vor Mikrofonen, aber global nicht nachhaltiger gewirtschaftet. Allein die Nutzung des Erdöls verhagelt jede Nachhaltigkeitsbilanz. Das Verhältnis zwischen Erdölentstehungs- und -verbrauchszeit beträgt mittlerweile 1.000.000:1. Auch die dadurch freigesetzten Treibhausgase können nicht binnen eines Jahres durch Ozean und Pflanzen aus der Atmosphäre abgebaut werden.

Der Club of Rome, der WWF Deutschland, das World Watch Institute (Washington): Alle haben im Vorfeld des Rio-Gipfels ihre Studien über den alarmierenden Zustand der weltweiten Ökosysteme veröffentlicht. Da hätte es des neuen Geo-5-Berichts des UN-Umweltprogramms UNEP fast gar nicht mehr bedurft. Er zieht ebenfalls eine verheerende Bilanz.

Von den mehr als 400 Umweltzielen, wie sie von der Staatengemeinschaft in den letzten 40 Jahren beschlossen wurden, stehen die meisten weiter nur auf dem Papier. Fortschritte gab es auch: Die Heilung der Ozonschicht ist auf dem Weg, Benzin enthält kein Blei mehr, mehr Menschen haben Zugang zu sauberem Trinkwasser, die erneuerbaren Energien erobern Märkte, die Waldzerstörung hat sich verlangsamt, die Belastung durch Schwermetalle ist gesunken. Die Mega-Probleme haben sich indes vergrößert: Erdatmosphäre und -ozean sowie die schrumpfende Biokapazität der Erde sind die großen Sorgenkinder. Nur wenn die Weltkonjunktur lahmt, stockt der Schadstofftransfer in die Ökosysteme.

Den Hoffnungsträger Grüne Ökonomie interpretiert man in Rio unterschiedlich: Die Weltbank und die in der OPEC organisierten ölexportierenden Länder sehen sie als Vehikel, um weiteres Wachstum auszulösen. Mit ihr sollen umweltneutral die Kosten zur Lösung sozialer und ökologischer Probleme gegenfinanziert werden. Ressourcensparende Technologie soll die Umweltbelastung verringern, Atomkraft das Defizit bei der fossilen Energieproduktion füllen und Gentechnik verstärkt zur Nahrungssicherheit beitragen.

Den anderen Pol der Kontroverse bildet die Zivilgesellschaft: Umweltverbände und andere Nichtregierungsorganisationen fordern eine neue Definition von Wachstum und seine Ausrichtung an der Biokapazität und den Belastungsgrenzen der irdischen Ökosysteme. Dazwischen ein vielstimmiger Chor aus Industrie-, Schwellen- und Entwicklungsländern.

Unterdessen erlebt die Wachstumskritik in den Industriestaaten seit Jahren eine ungeahnte Renaissance. Wachstumsbefürworter und -gegner führen eine lebhafte Debatte mit plausiblen Standpunkten. Sie sind sich jedoch in einem Punkt einig: Nur mit herkömmlichem - ressourcen- und energieintensivem - Wachstum werden die Entwicklungsländer den Preis für Entwicklung, etwa Armutsbekämpfung und Bildungsförderung, erwirtschaften können.

Wachstumsbefürworter sehen diesen Zwang aus demografischen Gründen auch für Industriegesellschaften: Sie haben steigende Kosten für Gesundheit, Altenpflege und die steigende Zahl der Rentner. Weniger Menschen müssen mehr erwirtschaften. Wie soll das gehen ohne höhere Produktivität - und ohne Wachstum?

Schließlich wirkt überall die "Rationalisierungsfalle": Wenn weniger Menschen mehr produzieren, werden einige überflüssig. Um nicht die Arbeitslosenquote zu erhöhen, bleibt als Ausweg nur Wachstum. Es bewahrt, so Soziologen, auch den sozialen Frieden, und erleichtert das Schultern wirtschaftlicher Lasten, wie sie allein aus Anpassungsmaßnahmen an den Klimawandel entstehen.

Aber auch die explodierte Verschuldung der Staaten benötigt Wachstum. Ohne höhere Steuereinnahmen würde deren Lage noch aussichtsloser. Griechenland ist nur die Spitze des Eisbergs. Wachstumskritiker sehen selbst in einer Effizienz-Revolution keinen Ausweg: Wenn Waren mit weniger Ressourcen produziert werden, freut sich der Verbraucher. Es wirkt der Rebound-Effekt: Niedrigere Preise beflügeln den Konsum, womit die Ressourcen-Einsparung gleich wieder dahin ist. Beispiel Auto: Mit einem Liter Benzin fährt es heute rund 50 Prozent weiter als 1970.

Aber die Zahl der Autos hat sich weltweit verdoppelt, zudem hat die Mobilität die gefahrenen Kilometer pro Jahr steigen lassen. Das verhält sich im modernen Privathaushalt kaum anders: Tiefkühltruhe und Waschmaschine sind zwar auf Stromdiät gesetzt worden, aber die schiere Zahl stromsaugender Geräte ist gewachsen. Selbst Spielen lässt es sich in manchem Kinderzimmer nur noch mit aufgeladenen Akkus.

Das "Immer mehr" bei gleichzeitig latenter Unzufriedenheit hat im reichen Westen zwar keine fundamentale Sinnkrise, aber durchaus Nachdenken provoziert, weil "immer mehr" nicht automatisch "immer besser" bedeutet. Verschiedenste Studien in Industrieländern haben ergeben, dass mehr Geld zwar die Lebenszufriedenheit fördert, aber die individuelle Glückskurve ab etwa 60.000 Euro Jahreseinkommen abflacht.

"Die Stringenz zwischen Wachstum, Wohlstand und Lebensqualität hat sich aufgelöst", sagt Professor Meinhard Miegel, der frühere Politikberater sowie ehemalige Leiter des Bonner Instituts für Wirtschaft und Gesellschaft. Miegel leitet heute das Denkwerk "Zukunft" und sitzt in einer Enquete-Kommission, die die Bundesregierung 2011 ins Leben gerufen hat, um Antworten auf wachsenden Selbstzweifel zu finden. Sie heißt "Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität". Miegel sieht vor allem "immaterielle Elemente", die zunehmend über die empfundene Lebensqualität entscheiden.

Wie misst man etwas, was kein Preisschild trägt? Dazu taugt der traditionelle Wohlstandsmesser, das Bruttoinlandsprodukt (BIP), kaum mehr. Das BIP erfasst nur Dinge, die Umsatz und Zahl hinterlassen. Ein Verkehrsunfall erhöht über zu reparierenden Schäden das BIP ebenso wie ein Einbrecher, der eine Glasscheibe einschlägt. Auch die Luftbuchungen im Vorfeld der Finanzkrise treiben das BIP.

Kindererziehung, Arbeitslosigkeit, private Kranken- und Altenpflege, Selbstverwirklichungsaktivitäten, Kriminalität, sozialer Unfrieden - nichts von alledem steigert das BIP. Und die schleichenden, vom wirtschaftenden Menschen verursachten Umweltschäden werden nicht in Kosten übersetzt, senken somit das BIP nicht. Aber das BIP ist der Kompass der Politik.

Eine Nachdenk-Kommission benötigt Impulse von außen. So lud sie ausgerechnet Dennis Meadows, Wachstumswarner der ersten Stunde, nach Berlin ein: Als er 30 war (1972), veröffentlichte er seine Studie "Die Grenzen des Wachstums". Die Mitglieder stellen ihm viele Fragen. Der Systemanalytiker, nun um 40 Jahre weiser, antwortet nicht immer konkret: "Ich schaue mir die Weltmodelle nicht mehr an." Es gebe eine endliche Erde, daraus ergäben sich alle Schlüsse. Meadows spürt inzwischen vielmehr der Frage nach: Woran sind in der Vergangenheit untergegangene Gesellschaften gescheitert? "Es wäre dumm sich vorzustellen, dass das Wachstum immer so weiter geht."

Irgendwann landet man beim Grundsätzlichen. Meadows glaubt, dass Diktaturen langfristige Probleme ebenso wenig lösen wie Demokratien - "alles Kurzfrist-Systeme". Heftiges und teils auch empörtes Nachfragen. Meadows: Wenn der Zusammenbruch plötzlich eines Tages käme, egal ob durch Öl- oder Klimakrise ausgelöst, sehnten sich die Menschen mehr nach Ordnung als nach Freiheit. "Wenn Sie realistisch sind, können Sie die Demokratie erhalten. Wenn Sie aber glauben, Sie hätten noch 30 Jahre Zeit, dann werden sie die Demokratie verlieren." Das verblüffte die Experten. Aus diesem Blickwinkel hatten sie noch gar nicht in die Zukunft geschaut.

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