Ägypten Neuanfang oder Rolle rückwärts?

Kairo · Es war, als sei der ganze Tahrir-Platz auf Ecstasy als Ägyptens oberster Militärchef Abdel Fatah Al-Sisi das Ende der Amtszeit des Muslimbruders Mohammed Mursi verkündete. Kairos Innenstadt im Anti-Mursi-Rausch.

 Jubel vor dem Gebäude des Verfassungsgerichts in Kairo, wo Richter Adli Mansur durch das Militär zum neuen ägyptischen Präsidenten ernannt wurde.

Jubel vor dem Gebäude des Verfassungsgerichts in Kairo, wo Richter Adli Mansur durch das Militär zum neuen ägyptischen Präsidenten ernannt wurde.

Foto: dpa

Die Frage am Tag danach ist, wie lange die Wirkung der Droge anhalten wird. Denn bei der Anti-Muslimbruder-Koalition, die da auf dem Platz stand, sind schon die politischen Widersprüche der Post-Mursi-Zeit angelegt.

Da standen zum einen jene auf dem Platz, die Mubarak einst gestürzt haben, junge Tahrir-Aktivisten, Linke, Vertreter der Zivilgesellschaft, die von einem neuen Ägypten träumen und die beim Sturz Mubaraks den Blutzoll gezahlt haben.

Die guten Helden der Revolution. Neben ihnen stand die "Sofa-Partei", jene Ägypter, die sich den arabischen Wandel bisher im Fernsehen angeschaut, aber sich nicht daran beteiligt hatten, und von denen nach einem Jahr Amtszeit Mursis, oft der Satz zu hören war: "Unter Mubarak war es doch besser."

Und dann standen da noch die alten Mubarak-Seilschaften auf dem Platz, die hoffen nun durch die Hintertür wieder in das politische System zu kommen. Nicht zu vergessen sind auch die Vertreter des Sicherheitsapparates, die sich nichts sehnlicher wünschen, als rehabilitiert zu werden, ohne ihren Unterdrückungs-Apparat reformieren zu müssen und die in den Protesten ebenfalls mitgemischt haben.

In anderen Worten: Revolution und Konterrevolution standen geeint in ihrer Ablehnung gegen die Muslimbruderschaft. Die einen wollen Veränderung, die anderen wollen das Rad zurückdrehen. Beide sollen jetzt aushandeln, wie es mit Ägypten weitergeht - mit dem Militär im Hintergrund, das seine Interessen und Privilegien im Auge hat.

Keine gute Mischung. Statt um die Frage, wie viel Religion die Politik verträgt, wird man sich nun darüber streiten, wie viel Neues und wie viel Reform in dem Land am Nil durchgesetzt werden kann. Also ein wenig wie "Ziehe auf Los, an den Anfangspunkt, aber ohne die Muslimbrüder."

Die gehen direkt ins Gefängnis ohne über Los zu gehen, zumindest die Führungskader. Ironischerweise sind die Ersten, wie der erste Parlamentspräsident der Post-Mubarak-Zeit, Saad Katatni inzwischen in das gleiche Gefängnis eingeliefert worden, in dem Mubarak sitzt.

Überhaupt wird es interessant, wie die ägyptische Justiz mit den beiden Fällen umgeht. Die Vertreter des alten Regimes sind in langen Verfahren bisher oft im Schongang abgehandelt worden.

Etwas, dass die Muslimbrüder immer betont haben, wenn sie die Justiz als durchsetzt mit Mubarak-Seilschaften an den Pranger gestellt haben. Mal sehen, wie die gleiche Justiz nun mit den Muslimbrüdern umgeht. Wenn dort mit zweierlei Strafmaß gemessen wird, wird deutlich, dass da etwas faul ist, mit Justicia am Nil, zumal das Mubarak-Klientel in Fragen der Bereicherung, Korruption und dem brutalen Einsatz des Sicherheitsapparates sicherlich unschlagbar ist.

Die Niederlage der Muslimbrüder ist total. Aber das macht sie umso gefährlicher. Die Muslimbruderschaft liegt wie ein angeschossener Tiger im Gras. Dabei geht es weniger darum, dass deren Anhänger in den nächsten Tagen und Wochen auf der Straße aufbegehren und es zu blutigen Auseinandersetzungen oder gar zu einem Bürgerkrieg kommt.

Die Muslimbruderschaft befindet sich im Schockzustand. Und mit einer Verhaftungsliste von 300 ihrer Führungskader, die jetzt nach und nach abgeführt werden, wird sie ihrer Köpfe beraubt. Mit ihren abgedrehten Fernsehkanälen, ist es auch schwer für sie zu mobilisieren.

Doch das ist ein Zustand, der nicht von Dauer sein wird. Aus solchen Aktionen wachsen erfahrungsgemäß neue, jüngere Kader heran. Die können sich in zwei Richtungen entwickeln. Sie können das letzte Jahr als eine Lektion ansehen, dass die Mentalität ihrer Führung nicht mehr zeitgemäß war, und die Muslimbruderschaft endlich reformieren, hin zu einer islamisch-konservativen Partei.

Geboren aus 80 Jahren Verfolgung und Gefängnis traute ihre Führung mit dieser Mentalität niemanden über den Weg und hatte versucht, den Staatsapparat nur mit ihren eigenen Vertrauten zu besetzen. Ohne jegliche Zusammenarbeit mit anderen politischen Gruppierungen dachten sie nur daran, diese eine Chance an der Macht zu nutzen, um ihre Verfassung und ihre Vorstellungen durchzusetzen - ohne Rücksicht auf politische Verluste. Diese Mentalität wurde ihnen am Ende zum Verhängnis.

Das Problem ist, dass sie in ihrer Denkweise, niemandem über den Weg zu trauen, jetzt einmal mehr bestätigt wurden, in der Art, wie ihnen die demokratisch erlangte Macht unsanft entzogen wurde.

Welche Schlussfolgerung ziehen die heute 20-jährigen Muslimbrüder aus dieser Erfahrung? Es ist nicht unwahrscheinlich, dass sich zumindest ein Teil von ihnen radikalisieren wird. Das wäre dann der politische Nachlass des 3. Juli 2013, des Tages, an dem Mursi gegangen wurde. Den wird Ägypten nicht in wenigen Tagen, Wochen oder Monaten antreten. Es wird ein Erbe, das das Land am Nil noch Jahre beschäftigen wird.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort