Angespannte Pandemie-Lage Neun Einsichten für den Weg in den Corona-Winter
Düsseldorf · Viele Menschen fühlen sich im Kampf gegen die Pandemie verunsichert. Was bringt das Impfen wirklich? Muss man noch Maske tragen? Ihnen hilft nur nüchterne Information, auch um Falschmeldungen zu enttarnen.
Demnächst bekommt Deutschland einen neuen Gesundheitsminister. Ob das an der misslichen deutschen Situation in der Corona-Pandemie vieles ändert, darf man bezweifeln. Die Probleme sind gewiss grundsätzlicher Art, doch hingen sie auch elementar mit dem Wahlkampf zusammen. Ein Gesundheitsminister sollte sich beispielsweise hüten, epidemische Lagen vorschnell für beendet zu erklären und Lockdowns für alle Zeiten auszuschließen – es sei denn, er möchte Punkte sammeln. Manche Fachleute befürchten einen finsteren Corona-Winter. In dieser Lage helfen vielleicht einige Gedanken.
- Deutsche Politiker müssen lernen, zu Dingen zu schweigen, von denen sie nicht so viel Ahnung haben. Medizin zählt im höchsten Maße dazu. Schauen wir uns Länder wie Dänemark oder Portugal an, die nach anfänglichen Schwierigkeiten einen sehr guten Weg zu einer hohen Impfrate gefunden haben. Dort gibt es staatliche Institutionen, die unermüdlich trommeln, werben, erfinderisch sind; die Politik steht hinter ihnen. In Dänemark und mehr noch in Portugal werden derzeit Träume wahr, weil – wie man sieht – die Menschen auch für Booster-Impfungen sehr offen sind. Sie merken: Je höher die Impfrate, desto geringer die Zahl der hospitalisierten Patienten. Und desto freier das Leben.
- Hierzulande besteht in manchen Kreisen ein hohes Bedürfnis nach Demontage souveräner und professioneller Institutionen. Dazu zählen vor allem das Robert-Koch-Institut (RKI) und die Ständige Impfkommission (Stiko). Beiden Einrichtungen wird beispielsweise vorgeworfen, nicht schnell genug zu sein. Beim RKI ist der Vorwurf unsinnig, weil die Behörde ihre Statistiken nur so schnell aktualisieren kann, wie ihr kommunale Daten übermittelt werden. Für die zum Teil vorsintflutliche Praxis vor Ort ist das RKI nicht verantwortlich; es mangelt bis heute an einer straffen Organisation auf der Achse von Bund, Länder und Kommunen. Die Diskreditierung der Stiko ist völlig unsinnig, weil dieses Gremium nicht nur aus Experten, sondern geradezu aus lauter Impfskeptikern besteht. Die Stiko vertritt gerade die Interessen derer, die sich vor einem Impfzwang und vor noch angeblich nicht genügend erprobten Impfstoffen fürchten. Während andere Länder Impfstoffe für gewisse Altersgruppen bereits zulassen, prüft die Stiko noch. Das entspringt dem Bedürfnis nach sauberer Wissenschaft. Politiker, die einer Impfkommission die Entscheidungen soufflieren, unterhöhlen das Vertrauen der Bürger in die Kompetenz dieser Fachleute. Die häufig einander widersprechenden Ärztefunktionäre sind ebenfalls keine Hilfe.
- Es mangelt hierzulande an professioneller Information zu wichtigen Aspekten rund um die Impfstoffe. Ein Beispiel: Immer wieder vergleichen Impfgegner die mRNA-Impfstoffe mit dem Grippeimpfstoff Pandemrix, der in einer leicht erhöhten Zahl von Fällen die seltene Krankheit Narkolepsie ausgelöst hat. Ausgelöst hat ihn ein sogenanntes Adjuvans, also ein spezifischer Impfverstärker, auf den die Totimpfstoffe angewiesen sind, Vektor- und mRNA-Impfstoffe hingegen nicht. Deshalb ist eine Spätfolge durch ein Adjuvans bei den beiden aktuellen Impfstoffgruppen unmöglich. Bei der Identifizierung eines möglichen Adjuvans für einen Spaltimpfstoff (mit inaktiviertem Virusmaterial) ist die Forschung allerdings schon recht weit.
- Rund um die Corona-Impfungen sind erstaunliche Mythen entstanden. Eine davon ist die angeblich hohe Impfrate in Israel. Dort hat man früh und schnell begonnen, aber dann stagnierte die Geschwindigkeit massiv. Am 31. März lag die Quote der vollständig Geimpften bei 52,1 Prozent der Gesamtbevölkerung. Am 31. Oktober waren es gerade einmal 62,2 Prozent. Es war absehbar, dass im September bei einer sich in Sicherheit wiegenden Bevölkerung die Infektionszahlen explodierten und den neuen Rekordwert von knapp 11.400 Neuinfektionen an einem Tag erreichten. Seitdem in Israel aber Auffrischungsimpfungen verabreicht werden, bessern sich die Zahlen erheblich. In Israel gehen die Behörden mittlerweile resolut vor. Um die Menschen zur Auffrischungsimpfung zu ermutigen, werden sie von den Krankenkassen angerufen: „Hallo, ich möchte einen Termin für Ihre dritte Impfung vereinbaren.“
- Wie man Motivation für die Impfung erreicht, ohne die Menschen einem Druck auszusetzen, ist fraglos eine komplizierte Angelegenheit. Dabei sind Wirkung und Sicherheit der aktuellen Impfstoffe sehr gut dokumentiert. Sie erreichen (bei den mRNA-Impfstoffen noch stärker als bei den Vektorimpfstoffen) sehr oft eine klinische Immunität (die Leute erkranken in den meisten Fällen nicht schwer), allerdings nicht so oft auch eine sterile Immunität (man erkrankt nicht und kann auch keinen anderen anstecken). Generell gilt: Je älter die Impflinge sind, desto schwächer reagiert ihr Immunsystem auf eine Impfung; es baut den Immunschutz rasch wieder ab. Wenn diese Kollektive nicht schnell genug geboostert werden, treten Erkrankungsszenarien ein wie jetzt, wo in einigen Alten- und Pflegeheimen vergleichsweise viele Neuinfektionen mit zum Teil schweren Verläufen zu diagnostizieren sind. Dort traf beides gleichzeitig ein: schwindender Immunschutz bei den Bewohnern und geringe Impfquote beim Pflegepersonal.
- Infektionen in vulnerablen Gruppen treten tatsächlich gehäuft in Häusern auf, bei denen das Personal nicht in genügender Zahl geimpft ist. Wäre eine Impfpflicht die Lösung, wie es Frankreich praktiziert? Der Haken an der Impfpflicht: Sie wiegt die Geimpften in falscher Sicherheit und lässt sie bei den anderen Corona-Maßnahmen (Abstand, Maske, Hygieneregeln) säumig werden. Seit aber bekannt ist, dass infizierte Geimpfte bei gesunkenem eigenen Immunschutz ebenso hohe Viruslasten erreichen können wie infizierte Ungeimpfte, sieht die Sache komplexer aus. Wenngleich die infizierten Geimpften die Viren selbst deutlich kürzer ausscheiden als infizierte Ungeimpfte, stellen sie doch ein mögliches Infektionsrisiko dar. Deshalb ist die Abkehr vom Testen der falsche Weg. Der Staat kann nicht hohen Motivationsdruck aufbauen, dann aber das Regelinstrument abschaffen oder budgetieren
- Die Argumentation, warum die Impfung so wichtig ist, muss deshalb an anderer Stelle ansetzen: beim Selbstschutz und vor allem bei der möglichen Überlastung der Krankenhäuser. Viele Pflegekräfte haben, von früheren Pandemiewellen ausgezehrt, ihren Dienst auf Intensivstationen (ITS) quittiert. Zugleich passiert Gegenläufiges: deutlich jünger als noch vor einem Jahr, sind somit robuster – und liegen viel länger auf einer ITS. Ein Intensivbett blockieren sie nicht selten über mehrere Monate. Dabei hat sich der Arbeitsanfall nicht geändert, im Gegenteil. Früher starben Covid-Patienten schnell, jetzt sterben sie langsamer, wobei die Krankheit immer mehr Organsysteme befällt, längst nicht nur die Lunge. Jedenfalls sind unter den Toten fast nur Ungeimpfte,
- Es muss an immer mehr Stellschrauben gedreht werden, damit die Patienten überleben. Wer dreht an diesen Schrauben? Covid-Patienten auf einer Intensivstation sind maximal betreuungsintensiv, mit Influenza-Patienten nicht zu vergleichen. Die Hygienemaßnahmen sind überaus aufwändig, für das An- und Ausziehen der Schutzkleidung müssen jedes Mal drei bis fünf Minuten einkalkuliert werden. Wenn ein Diffusor oder ein anderes Monitoring-Gerät Alarm schlägt, kann man nicht mal eben zum Patientenbett springen. Uta Merle, Infektiologin am Universitätsklinikum Heidelberg, sagt: „All das, was man gewöhnt ist, geht in diesem Fall nicht.“ Das generiere Stress. Für eine Studie der internistischen Intensivstation am Universitätsklinikum Köln haben Ärzte die Zahl der Alarmmeldungen pro 24 Stunden und Covid-Intensivpatient zusammengezählt: Es waren 120. Das erzwingt das personell beinahe Unmögliche: die 1:1-Betreuung. Eine Klinik, deren Intensivpersonal dermaßen durch Covid-Patienten absorbiert ist, muss zwangsläufig Betten streichen, die sie zwar belegen, aber nicht betreuen kann.
- Ein Aspekt ist allerdings interessant. Aus dem Klinikalltag kennt man nicht wenige Fälle, dass geimpfte Mitarbeiter unter hohem Schutz Kontakt zu Covid-Patienten hatten und dann durch einen turmhohen Antikörperspiegel auffielen – auch bei den sogenannten neutralisierenden Antikörpern, die sogar die eigene Infektion verhindern. Diese Mitarbeiter haben möglicherweise bei sich durch regelmäßigen Kontakt mit geringen Virusmengen einen Booster-Effekt erreicht, der sie selbst und dann auch andere sicher schützt. Bei einem PCR-Test wären sie kurzzeitig als positiv aufgeflackert; ob sie in diesem Zeitfenster auch infektiös waren, also ansteckend für andere, darf bezweifelt werden. Nachgeimpft werden müssen sie zwar auch, doch dürfte ihre Immunität überaus robust sein. Diese Hypothese findet Ortwin Adams, Virologie-Professor am Universitätsklinikum Düsseldorf, nachvollziehbar; Studien dazu gibt es aber seines Wissens noch nicht. Wenn aber die Theorie stimmt, dass der Kontakt zum Coronavirus etwa in der hochaggressiven Delta-Variante für kaum jemanden zu vermeiden ist, dann dürften diejenigen aus diesem Kontakt unbeschadet herausgehen, die sich vor dem Kontakt mit dem Virus am besten geschützt haben. Über die Wirkkraft unterschiedlicher Masken ist die Datenlage etwa durch eine neue Untersuchung der Max-Planck-Gesellschaft unstrittig.Deshalb sind Impfung und gute Maske für diejenigen Menschen, die eine Intensivstation keinesfalls von der Bettseite erleben wollen, weiterhin die beste Option.