Kommentar zum EU-Gipfel Nie wieder Kungelei

Meinung | Brüssel · Der EU-Gipfel-Marathon in Brüssel geht weiter. Spitzenkandidaten sind derzeit nicht durchsetzbar, sie vernebeln die europäische Wirklichkeit, kommentiert unser Autor.

 Bundeskanzlerin Angela Merkel kommt zu einem EU-Gipfel an. Der EU-Sondergipfel sucht vergeblich eine Lösung im Streit um die Besetzung der wichtigsten EU-Führungspositionen.

Bundeskanzlerin Angela Merkel kommt zu einem EU-Gipfel an. Der EU-Sondergipfel sucht vergeblich eine Lösung im Streit um die Besetzung der wichtigsten EU-Führungspositionen.

Foto: dpa

Dieser EU-Gipfel in zwei Etappen bedeutet das Ende einer Idee. Mehr Demokratie sollte der sogenannte Spitzenkandidaten-Prozess schaffen. An diesem Dienstag ist das Modell begraben worden – nicht explizit, wohl aber durch das faktische Handeln der Staats- und Regierungschefs.

Sie haben den Bürgern vor Augen geführt, dass es keinen Automatismus zwischen dem Wahlsieg bei einer Europawahl und der anschließenden Beförderung in das höchste Amt dieser Gemeinschaft geben kann. Es sei denn, die EU geht bis zur nächsten Abstimmung einen weiteren, vielleicht sogar endgültigen Schritt zu einer politischen Gemeinschaft und schafft ein einheitliches Wahlrecht. Darin kann man dann einen Anspruch der siegreichen Parteienfamilie auf den Job des Kommissionspräsidenten verankern.

Spitzenkandidaten sind derzeit nicht durchsetzbar, sie vernebeln die europäische Wirklichkeit. Denn ohne Vertragsänderung werden die Regierungschefs zur letzten Instanz – und zum Schauplatz für nationale Interessen, egoistische Rachefeldzüge oder schlicht Kungelei. Alles, was die Erfinder des Spitzenkandidaten-Modells beseitigen wollten, ist nun wieder aufgebrochen, weil kaum jemand kompromissfähig war. Am Ende wurden Kandidaten und hohe Ämter beschädigt. Der Stuhl des Parlamentspräsidenten ist keine Entsorgungsstelle für gescheiterte oder abgelehnte Spitzenkandidaten.

Der Begriff „bedauerlich“ charakterisiert das, was in Brüssel stattgefunden hat, nur unzureichend. Es ist nicht undemokratisch, wenn die Premierminister von 28 Mitgliedstaaten lange um Mehrheiten für ihr neues Führungspersonal ringen müssen. Es ist auch nicht verwerflich, wenn dabei diverse Tableaus und viele Namen auf den Tisch kommen und wieder fallengelassen werden. Solche Spielchen gehören bei jeder Regierungsbildung in jedem Mitgliedsland dazu.

Auch in Deutschland werden Ministerämter und andere Topjobs nicht vom Wähler, sondern von den Parteien besetzt, die in Koalitionsverhandlungen ihre Personalvorstellungen abgesprochen haben. Das sollte den Vorwurf undemokratischen Verhaltens zumindest abschwächen. Dennoch bleibt der Eindruck, dass die Hinterzimmer-Mauschelei am Ende doch entscheidender ist als das Abstimmungsergebnis. Es wird sehr schwer sein, dieses Bild bis zur nächsten Wahl zu korrigieren.

Eine transparente und faire Europawahl ist nur möglich, wenn es europäische Listen gibt. Wenn die Top-Leute der Parteienfamilien von allen Europäern gewählt werden können. Und wenn auch schon vor dem Tag des Urnengangs feststeht, welchen Fraktionen sich die Parteien und Gruppierungen im EU-Parlament anschließen. Denn da gibt es immer wieder Überraschungen. Zudem muss absehbar sein, welche Bedeutung das Wahlergebnis für die Besetzung der Spitzenpositionen hat. Diese Fragen kann man in einem neuen Wahlrecht für alle Mitgliedstaaten regeln, ohne in nationale Hoheiten oder Eigenheiten einzugreifen. Die fast 200 Millionen EU-Bürger, die im Mai ihre Stimme abgegeben haben, müssten dann nicht verständnislos zusehen, wie die Mächtigen machen, was sie wollen.

Wer Transparenz will und fordert, sollte festschreiben, dass alles, was vor der Wahl galt, auch danach sichergestellt ist. Nur so sind Kungelei und Hinterzimmer-Absprachen auszuschließen. Aber dazu wäre ein Schritt der Staats- und Regierungschefs nötig, dem sie sich bisher stets verweigerten: Sie müssten Macht abgeben und akzeptieren, dass dieses Europa wirklich den Menschen gehört.

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