Kommentar zum Erdbeben in Italien Notstand als Alltag

Meinung | Rom · Statt in Erdbebensicherung zu investieren, setzt Italiens Regierung auf umstrittene Infrastrukturprojekte, die Milliarden verschlingen.

 Helfer suchen in den Trümmern in Pescara del Tronto nach Überlebenden.

Helfer suchen in den Trümmern in Pescara del Tronto nach Überlebenden.

Foto: dpa

In schwierigen Situationen seien die Italiener zu besonderen Leistungen in der Lage, heißt es. Auch nach dem verheerenden Erdbeben in Mittelitalien ist wieder vom besonderen Zusammenhalt des Landes in einer Krise die Rede. Tatsächlich sind Aufopferung und Hilfsbereitschaft der Retter eindrucksvoll.

Das romantisierende Lob der Stärke in der Krise lenkt aber auch von einem vorherigen Versagen ab: Italien wird regelmäßig von Erdbeben heimgesucht, bereitet sich aber nur ungenügend auf diese Ereignisse vor. Die Nation lässt sich jedes Mal aufs Neue förmlich überrumpeln.

Die Liste der jüngsten Erdbeben, bei denen Menschen zu Schaden kamen, ist lang. 2012 gab es 27 Tote in der Emilia-Romagna. Drei Jahre vorher starben über 300 Menschen in den Abruzzen. Zuvor gab es viele Tote in Molise, in Umbrien, in Kampanien, im Friaul und auf Sizilien.

Italien ist an Erdbeben gewöhnt, durchschnittlich alle fünf Jahre gibt es schwere Erdstöße. Aber diese Katastrophenroutine hat bisher nicht dazu geführt, dass man versucht, die verheerenden Effekte eines Erdbebens im Vorhinein abzufedern. Möglichkeiten gibt es genug. Sie reichen von Kursen zur Erdbebenprävention bis hin zur Sicherung gefährdeter Gebäude. Beides gibt es in Italien viel zu wenig.

Die verheerende Wirkung der Erdbeben in Italien hat gewiss auch mit der alten Bausubstanz der von Touristen bewunderten mittelalterlichen Städte zu tun. Die Schönheit Italiens ist daher auch seine Achillesferse. Doch insbesondere die italienische Politik hat es versäumt, nach jahrzehntelangen Erfahrungen von Leid und Zerstörung die Weichen richtigzustellen.

So ist der Erlass einer wirkungsvollen Erdbeben-Gesetzgebung und ihrer Anwendung auch deshalb bis heute Makulatur, weil die in der Vergangenheit stets wechselnden Regierungen nicht am selben Strang zogen. Steuererleichterungen zur Renovierung gefährdeter Privatgebäude bestehen zwar auf dem Papier, im Dickicht der italienischen Bürokratie nimmt sie aber kaum jemand in Anspruch. Schließlich wäre da noch der Appetit skrupelloser Unternehmer und Politiker, die sich etwa nach dem Erdbeben in L'Aquila am Wiederaufbau illegal bereicherten. Der Notstand, so hat man den Eindruck, ist in Italien zum Alltag geworden.

Überfällig ist eine systematische Sicherung öffentlicher und privater Gebäude in den von Erdbeben bedrohten Gebieten, in denen 24 Millionen Italiener leben. Stattdessen engagieren sich die verschiedenen Regierungen immer wieder in anderen, oft unvollendet bleibenden Infrastrukturprojekten, deren Kosten die Erdbebensicherung des ganzen Landes gedeckt hätten und zudem einen Wirtschaftsaufschwung begünstigen könnten.

Machbarkeitsstudien für eine Brücke über die Meerenge von Messina verschlingen seit Jahren Millionensummen, die umstrittene Hochgeschwindigkeitsstrecke zwischen Turin und Lyon bereits Milliarden. Roms unvollendete dritte U-Bahn-Linie kostet mit knapp sechs Milliarden Euro inzwischen dreimal so viel, wie ursprünglich veranschlagt. Italien hat sich grob verzettelt. Das jüngste Erdbeben sollte Anlass zum Umdenken sein.

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