Türkei Opposition marschiert auf Istanbul zu

Istanbul · Der Protest wird zum Problem für Präsident Recep Tayyip Erdogan. Parteichef Kemal Kilicdaroglu gewinnt an Profil.

Zehntausende Anhänger der CHP-Opposition marschieren.

Zehntausende Anhänger der CHP-Opposition marschieren.

Foto: AP

Sie marschieren durch die Gluthitze von 45 Grad über den heißen Asphalt. Sie tragen türkische Fahnen und Schilder mit der Aufschrift „Adalet“ – Gerechtigkeit. Und sie werden immer mehr. Was als belächelte Aktion des türkischen Oppositionsführers Kemal Kilicdaroglu begann, hat sich zu einer ernsten Herausforderung für den machtbewussten Präsidenten Recep Tayyip Erdogan gewandelt. Mehrere zehntausend Menschen marschieren inzwischen mit Kilicdaroglu, der seine Protestaktion vor mehr als zwei Wochen in Ankara begann, auf Istanbul zu.

Nach dem umstrittenen Verfassungsreferendum, bei dem 49 Prozent der Wähler gegen Erdogan stimmten, zeigt Kilicdaroglus „Marsch der Gerechtigkeit“ zum zweiten Mal in kurzer Zeit, wie groß die Unzufriedenheit vieler Türken mit Erdogan ist. Konkreter Anlass für den Demonstrationszug war die Inhaftierung von Enis Berberoglu, eines Abgeordneten seiner säkularistischen Partei CHP. Doch inzwischen hat sich der Protest des CHP-Chefs zu einer allgemeinen Machtdemonstration der Erdogan-Gegner entwickelt.

Der Zulauf wächst jeden Tag. Viele Oppositionspolitiker, Journalisten, Anwälte, Sportler, Opfer von Polizeigewalt und „normale Bürger“ haben sich Kilicdaroglus „Marsch der Gerechtigkeit“ angeschlossen. Laut Demoskopen reicht die Sympathie für die Aktion bis in die Anhängerschaft von Erdogans Regierungspartei AKP.

Das hindert Erdogan nicht daran, die Teilnehmer des Marsches als Anhänger der kurdischen Terrorgruppe PKK und des islamischen Predigers – und angeblichen Putschführers – Fethullah Gülen zu verunglimpfen. Kein Mensch nehme es Kilicdaroglu und dessen Kumpanen ab, dass sie für die Gerechtigkeit auf die Straße gingen, schimpfte der Präsident.

Doch Erdogan kann nicht verhindern, dass der lange als farblos kritisierte Kilicdaroglu mit dem Protestmarsch an Profil gewinnt. Da ist zum einen die physische Leistung des 68-Jährigen, der seit Wochen in der Hitze jeden Tag etwa 20 Kilometer zurücklegt und der trotzdem so energiegeladen wirkt wie nie. Zum anderen bildet Kilicdaroglus simple Forderung nach Gerechtigkeit ein Dach, unter dem sich viele verschiedene Gruppen der sonst hoffnungslos zerstrittenen Opposition sammeln können.

Inzwischen haben die Demonstranten rund 300 des rund 420 Kilometer langen Weges von Ankara nach Istanbul hinter sich. Ziel ist das Gefängnis Maltepe, in dem Berberoglu einsitzt. Für Kilicdaroglu stellt sich unterdessen die Frage, wie er den Schwung des „Marsches der Gerechtigkeit“ über das Ende der Aktion hinaus bewahren kann und nun in konkrete Politik umsetzt: Der schwierigste Abschnitt von Kilicdaroglus Weg könnte noch vor ihm liegen.

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